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Gegenwart(en)

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Oft wollen wir etwas, was wir noch nicht haben. Wann wir es bekommen, wissen wir nicht. Also beginnen wir zu warten. Dabei opfern wir das kostbarste, worüber wir verfügen: die Gegenwart. Doch die Gegenwart ist das beste gegen-warten.

Nimm an, dein Bus kommt nicht. Schon in 15 Minuten beginnt in der Arbeit aber deine Präsentation, auf die du dich wochenlang vorbereitet hast. Alle Kollegen werden anwesend sein. Gestern ist dir sogar noch eine Idee eingeschossen, die dem Unternehmen langfristig helfen könnte. Doch ausgerechnet heute Verspätung! Bloß Autos und Lastwagen rollen um die Kurve. Dein Puls steigt, die Haut juckt, der Hund neben dir bellt immer lauter. Plötzlich fällt dir ein, dass du wegen der Präsentation auf den Geburtstag deiner besten Freundin vergessen hast. Was bist du nur für ein Mensch! Warum hast du dir keine Erinnerung eingestellt? Wie lange wird sie von dir enttäuscht sein? Sollst du ihr texten, oder sollst du lieber nochmal deine Präsentation durchgehen? … Und wann kommt endlich dieser verdammte Bus?

Jeder kennt es aus dem eigenen Leben: warten heißt leiden. Egal ob wir die Prüfungsnote, den Arztbefund oder die WhatsApp-Antwort von unserem Schwarm erwarten, wir sind währenddessen wie gelähmt. Während wir warten, verwirren sich unsere Gedanken. Dauernd erinnert uns das Gehirn daran, dass es noch immer nicht passiert ist. Vielmehr verlieren wir beim Warten unsere Präsenz. Die Gedanken driften ab, entweder in die Vergangenheit, zum Beispiel wenn wir bereuen, oder aber in die Zukunft, wenn wir hoffen oder etwas befürchten.

„Wenn ich es nicht bald bekomme“, denken wir, „dann kann ich höchstens noch das versuchen. Wenn das aber auch nichts hilft, dann ist alles vorbei. Dann krieg ich diese Chance nie wieder. Wahrscheinlich erfahren es auch noch die anderen, und dann, oh Gott, dann würden ja alle wissen, dass ich …“ – Und plötzlich pfeifen die Türen. Der Bus, auf den man eigentlich gewartet hat, ist abgefahren.

Eines muss uns klar sein: Beim Warten opfern wir stets die Gegenwart. Dieser Moment, das Hier und Jetzt, ist aber die einzige Wirklichkeit in unserem Leben. Vergangenheit und Zukunft sind Illusionen. Unsere Erinnerungen verändern sich mit uns. Was in vier Wochen sein wird, kann keiner mit Gewissheit vorhersagen. Niemand war jemals in einer der beiden Sphären. Kein Sieg, kein Kuss, kein unvergessliches Erlebnis hat gestern oder morgen stattgefunden. Es ist immer heute. Es bleibt immer jetzt. 

Statt aber zu beachten, wie schön die Knospen jetzt sprießen, starren wir durch die Zweige hindurch und fürchten etwas zu verlieren, was wir noch gar nicht haben. Statt den Text, den wir jetzt lesen, zu verstehen, stellen wir uns vor, jemanden zu überzeugen, der uns noch gar nicht kennt. Statt die Augen jetzt offen zu halten, rennen wir gegen Masten und andere Menschen, weil wir von etwas träumen, was wir gar nicht brauchen. Aufgrund der Warterei werden wir allzu oft blind für die Möglichkeit, die uns das Leben direkt vor die Nase setzt.

Schwer, schwer ist es, in der Gegenwart zu bleiben. Nichts fühlt sich aber schöner an, als gegenwärtig zu sein. Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen sich jeder Gedanke verflüchtigt. Alles wird leicht und frei. Und wir, wir werden ganz ruhig und so klar im Kopf, weil es nichts mehr gibt, was uns von diesem Augenblick ablenkt. Dagegen ist kaum etwas hässlicher als ein Mensch, der uns überhört oder übersieht, weil er sich völlig aus der Realität des Moments ausgeklinkt hat. Wir müssen ihn kneifen oder laut mit ihm sprechen, manchmal sogar weggehen, damit er uns bemerkt. Und wie oft waren wir selber dieser Mensch.

Gerade in unserer derzeitigen Lage macht uns das Warten leicht wahnsinnig. Wir fragen uns täglich, wann die Fallzahlen sinken, wann die Maßnahmen enden oder wann wir wieder in eine andere Stadt fliegen können. Wenn wir Filme sehen, ertappen wir uns bei dem Gedanken, dass sich die Menschen damals noch draußen treffen durften. Doch jedes Mal, wenn wir fürchten, dass wir aufgrund der Krise unser Geld und den Job verlieren könnten, verlieren wir in Wahrheit diesen Moment. Hängen wir verpassten Chancen nach, verlieren wir in Wahrheit die Chance auf das Jetzt. Bangend, hoffend oder wartend –  wir berauben uns selbst dabei um einen großen Teil unseres Lebens.

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Alle Probleme liegen hinter oder vor uns, die Gegenwart selbst hat keine Zeit für Probleme. Zum Glück ist dieser Moment viel zu kurz und flüchtig, um darin Hypothesen zu spinnen und Sorgen anzureichern. Und wenn wir nur in ihm bleiben, dann geschieht etwas Wunderbares: Wir werden mit allem fertig.

Wie aber bleiben wir im Moment? Antwort: indem wir etwas tun. Malen, singen, schreiben, Musik und Sport, kochen, spielen, tanzen, lesen, lernen, basteln, Yoga, meditieren, die Hauptsache ist, dass wir uns darauf konzentrieren und es mit Achtsamkeit tun. Wenn wir aber abdriften, macht das nichts. Es braucht nicht mehr als ein paar bewusste Atemzüge, schon sind wir zurück im Jetzt.

In unserem Leben gab es wohl niemals eine vergleichbare Gelegenheit, um uns genau darin zu üben. Es liegt an uns: wir können nun wochenlang auf bessere Zeiten warten. Oder wir können sofort die beste Zeit haben, indem wir aufhören zu warten.

 

Mehr zum Thema findest Du übrigens in diesem Buch von Eckhart Tolle:

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

 

Weitere Gedanken zur Überbrückung der Quarantäne gibt’s in diesen Artikeln der letzten Tage:

Coroniken I 

Coroniken II – Bildernährung

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

 

28. März 2020

Über die Güte

Wien, am 20.12.2019

Das Wort »Güte« stammt augenscheinlich von »gut«. Was aber ist gut? Durch Argumente und Wertungen lässt es sich nicht ermitteln. Eine wahre Antwort darauf, was wirklich gut ist, erhalte ich nur von meinem Herzen. Wer gut handelt, erfährt dadurch Unbeschwertheit; wir ehren und lieben gütige Menschen, und wer gütig ist, der wird – vor allen Dingen – froh.

Das Wort »froh« ist weder mit Macht noch mit Ansehen verwandt; vielmehr mit der »Freude«, die in der Freundschaft und in der Freundlichkeit wohnt. Um herauszufinden, was uns froh macht, benötigen wir Beispiele, und suchen wir gewissenhaft nach ihnen, so landen wir bald bei Worten und Taten, mit denen wir unseren Mitmenschen helfen. Bei Handlungen, mit denen wir anderen eine Freude bereiten. Ganz gleich ob das Geschenk, das Kompliment oder der kleine Dienst: wer selbst froh sein will, macht andere froh.

Viele Menschen leben aber nicht miteinander wie Freunde, sondern gegeneinander wie Rivalen. Richtig, wir leben gegeneinander. Wer hat mehr Follower? Wer fährt teurer in den Urlaub? Welcher Schmuck funkelt heller? Welches Baby lächelt süßer? Wer hat den reicheren Mann, die schönere Frau? Wer ist bei irgendetwas der erste? – Durch die ständige Konkurrenz, die wir zu anderen Menschen aufbauen, erzeugen wir uns aber Stress, der unserem Körper nachhaltig schadet. Indem wir unsere Erwartungen unaufhörlich an neue Wünsche fesseln, legen wir unseren Geist in Ketten. Vor allem aber schadet das Vergleichsdenken unserer Fähigkeit zur Güte.

Der stetige Gegner der Güte ist das Ego. Es handelt und denkt für sich, für andere ist aber die Güte da. Während das Ego glaubt, sich zu erfreuen, wenn es mehr bekommt als jeder andere, begnügt sich die Güte damit, weniger zu wollen, anderen aber mehr zu geben. Güte bedeutet, weich und uneigennützig zu denken. Güte bedeutet, die Sicht und Situation des anderen nicht nur zu verstehen, sondern auch in die eigenen Entscheidungen miteinzubeziehen. Güte bedeutet, gewaltlos und friedlich zu bleiben, sanft zu blicken, zart zu sprechen und auch einmal zu schweigen, um anderen nicht zu schaden. Wer anderen nicht schadet, hilft sich selbst, und wer sich selbst hilft, hilft allen dadurch am besten.

Das zu beherrschen, dauert und es kostet Kraft, Geduld, mitunter sogar Beziehungen. Doch nur wer es schafft, seine ichbezogenen Gedanken und Gefühle umzuwandeln, kann gütig werden. Wahre Güte zeigt sich zwar nach außen, wird aber nur im Inneren bestätigt. Ich kann zehn Millionen Euro, drei Häuser, vier Ferraris, acht Firmen und fünfzehn Freundinnen haben: solange ich nicht gütig bin, werde ich damit nicht zufrieden sein. Jede neue Errungenschaft wird mich nur daran erinnern, dass es noch mehr zu holen und noch mehr zu verdienen gibt. Ich werde immer mehr Tabus brechen, um mich mit immer egoistischeren Menschen zu messen. Nach außen werde ich vielleicht erfolgreich erscheinen, innerlich werde ich aber betäubter, verlogener und immer ärmer. Je mehr ich meinen persönlichen Erfolg voranstelle, desto mehr Zeit wird mir für Güte fehlen.

Machen wir genau deshalb die Güte zu unserer obersten Regel. Ich will mein Ego in Güte verwandeln, das ist ein Credo fürs Glück. Was erfüllt uns schließlich mit mehr Frieden, als jemanden zu unterstützen? Wie viel Freude erfahren wir bereits, wenn wir einem anderen wieder auf die Beine helfen? Wie viel betrübter bleiben wir aber, wenn wir es anderen zeigen wollen? Wie depressiv stimmt es uns notwendig, wenn wir uns stetig in neue Erwartungen verstricken (lassen), die uns höchstens Äußerlichkeiten verschaffen können? Selbst wenn unsere äußerlichen Wünsche wahr werden, haben wir kaum Freude daran, weil es uns so viel Zeit und Energie gekostet hat, sie zu erfüllen, noch mehr aber, weil unser Ego bald schon wieder hungrig wird.

Güte ist die beste Antwort auf alles. Das weiß ich von meiner Oma.

 

Herzlichst,

Patrick Worsch