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Coroniken V – Meine Meinung

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Meinungen ploppen gerade wie Pilze aus dem Boden. Überall weiß jemand, was wichtig und richtig ist. Dennoch scheint es immer ein bisschen anders zu kommen. Höchste Zeit also, um über das Wesen der Meinung nachzudenken.

Wir leben in einer Demokratie, heißt es. Natürlich soll jeder sagen, was er glaubt. Man stelle sich bitte nur einmal vor, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr … Wo würden wir denn da hinkommen? – Hierzulande herrscht Common Sense darüber, die eigenen Ansichten auszudrücken. Es ist ein Grundrecht, für das wir notfalls auf die Straße gehen und auch kämpfen würden. Obwohl wir gegenüber Autoritäten manchmal vorsichtig damit sind, vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns verkneifen können, was wir denken und fühlen. Ob verlangt oder unaufgefordert, wir sagen unsere Meinung. Dafür wünschen wir uns Aufmerksamkeit und Zustimmung.

In der Corona-Pandemie vermehren sich die verschiedenen Ansichten exponentiell wie die Viren. Finanzexperten meinen zeitgleich, dass der Crash auf jeden Fall kommt und dass sich der Markt auf jeden Fall erholt. Hobbyteamchefs meinen, dass die Saison fortgesetzt oder sofort beendet werden muss. Arbeitgeber meinen, dass die Geschäfte morgen wieder öffnen sollen, Schuldner, dass ihre Kredite jetzt ausgesetzt werden müssen. Dann gibt es noch Politiker, Ärzte, Privatpersonen: allesamt meinen sie, dass der Virus höchstgefährlich, gefährlich, nicht gefährlicher als die Grippe und völlig ungefährlich ist. Die meisten von ihnen tragen ihren Standpunkt als einzige Wahrheit vor, wie wenn sie uns nichts anderes enthüllen, als dass der Herbst auf den Sommer folgt. Aber nicht nur diese Leute, auch wir vertrauen auf unsere Meinung. Wer ihr zu heftig widerspricht, der ist unwissend, feindlich oder von den Fake News.

Was aber ist eigentlich eine Meinung? Wie entsteht sie? Und wie sollen wir die Qualität der unzähligen Formen und Arten auseinanderhalten? – Wenn wir das Wort „Meinung“ betrachten, fällt zunächst auf, dass es von der Silbe „Mein“ dominiert wird. Es handelt sich folglich um etwas höchst Subjektives. Hätte die Meinung allgemeine Gültigkeit, wäre sie keine Meinung mehr, sondern eine „Wirung“ oder „Unsung“. Bekanntlich kennt unsere Sprache beide nicht.

Da eine Meinung also etwas Persönliches wiedergibt, wird sie auch von unserer Persönlichkeit gefärbt. Vor allem von unseren eigenen Erfahrungen, Erlebnissen, Einflüssen, von Vorbildern und dem Gesundheitszustand, genauso von unserer Zeit und dem Umfeld. Keine Meinung ist damit unabhängig. Jede Meinung zeigt jedoch, in welcher Weise unsere Werte in uns angeordnet sind. Welche innerliche Hierarchie in uns besteht. Was wir meinen, sagt letztlich am meisten über uns selbst aus.

Es wäre nun aber abartig und sogar gefährlich, wenn wir es uns abgewöhnen wollten, Meinungen über die Dinge zu fassen. Ständig verlangt die Natur unsere Einschätzung der Lage. Dadurch schützen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Liebsten vor Gefahren.

Aber dennoch! Dennoch gibt es Meinungen, denen wir vertrauen, während wir andere blitzschnell als überzogen, als unrichtig, schlicht als falsch beurteilen. Beurteilen ist auch das Stichwort, denn letztlich ist jede Meinung ein Urteil über einen Sachverhalt, und auch wenn wir viele dieser Urteile als Vorurteile abkanzeln, akzeptieren wir andere ohne Wenn und Aber. Wo liegt nun aber der Unterschied?

Zum einen kennen wir Meinungen, die auf Argumenten beruhen. Sie klingen schlüssig und beziehen sich auf allgemeine Erfahrungen, auf das, was viele erleben oder erlebt haben. Solche Meinungen wahren das Gleichgewicht. Sie zwingen uns nichts auf und lassen uns Raum. Wenn wir sie hören, haben wir das Gefühl, dass wir von ihnen profitieren. Im idealen Fall sind es Meinungen, die selbst für Gegenargumente offen bleiben und vielleicht sogar mit einer Frage ausklingen, um selbst noch etwas zu lernen.

Auf der anderen Seite gibt es aber Meinungen, die stark auf Emotionen beruhen. Sie klingen unschlüssig, beziehen sich auf Behauptungen und Mythen, auf die Art, wie einer selbst die Welt empfindet. Diese Meinungen beginnen schnell zu wackeln. Sie werden uns aufgedrängt und treiben uns in die Enge. Wir haben das deutliche Gefühl, dass wir nicht von ihnen profitieren. Im schlimmsten Fall sind es Meinungen, die sich, wie es auch Sekten tun, vor jedem Zweifel und Weiterdenken verschließen. Sie werden dann nur ausgesprochen, um uns zu überreden oder um Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Um die gesunde von der ungesunden Meinung zu unterscheiden, müssen wir aber vor allem unseren Blick schulen. Denn was wir sehen, darüber denken wir nach, und worüber wir nachdenken, darüber bilden wir Meinungen. Im Buch der fünf Ringe, einem Hauptwerk in der asiatischen Kampfkunst, beschreibt der Samurai Musashi, dass wir zwei völlig verschiedene Augen besitzen. Das eine ist das beobachtende Auge. Es sieht die Welt unaufgeregt und klar, ohne Verzerrung oder Übertreibung. Das beobachtende Auge erkennt die Dinge, so wie sie sind. Das wahrnehmende Auge sieht dagegen mehr, als wirklich vorhanden ist. Stets übertreibt es, stets ist es von Gedanken und Gefühlen abgelenkt und fantasiert etwas hinzu.

Je unruhiger die Zeit, desto eher neigen auch wir dazu, das wahrnehmende Auge zu benutzen, statt nur zu beobachten. Kein Wunder. Ständig werden wir aufgefordert, jemanden zu bewerten, ganz gleich ob durch Likes oder sämtliche Umfragen. Eigentlich ist es ja richtig, sich jede Sache aus drei Perspektiven anzusehen, ehe man sich sein Urteil bildet. Wie sehe ich es? Wie siehst es du? Wie sieht es ein Unbeteiligter? – Leicht gesagt, schwer befolgt.

Im Alltag hindern uns oft die eigenen Ziele und die knappe Zeit daran. Online laufen wir Gefahr, dem Confirmation Bias zu unterliegen. So wird jeder unserer Klicks abgespeichert und verwertet. Algorithmen erkennen unsere Muster und Meinungen. Sie bestimmen, was uns auf den Social-Media-Kanälen angezeigt wird. Dabei füttern sie uns mit dem, was uns am besten schmeckt: nämlich mit Infos, die unsere Sicht der Dinge wieder und wieder bestätigen. So werden unsere Meinungen mit jedem Klick dicker und unbeweglicher, bis uns niemand mehr vom Gegenteil überzeugen kann.

Beobachten wir daher objektiv und offen. Bleiben wir für Standpunkte zugänglich, die unseren eigenen fern erscheinen. Konfrontieren wir uns aktiv mit Artikeln und Videos, die wir ansonsten sofort wegklicken würden. Vergessen wir niemals, dass es allzu oft unsere eigene Meinung ist, die uns den Weg versperrt.

 

Der heutige Buchtipp beschäftigt sich mit den Abgründen der öffentlichen Meinungsmache:

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum

 

Mehr Gedanken zur Coronakrise findest Du hier:

Coroniken IV – Stoisch durch die Krise

Coroniken III – Gegenwart(en)

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Coroniken IV – Stoisch durch die Krise

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Krankheiten, Kriege, Katastrophen. Meist überfallen sie uns plötzlich und ohne Rücksicht. Die Philosophie der Stoiker bietet aber erste Hilfe für die Seele. So auch mit drei bewährten Ratschlägen, um in unruhigen Zeiten gelassen zu bleiben.

 

1. Akzeptiere, was geschieht

Solang es bei uns läuft, werden wir mit allem fertig. Wir lächeln breit und reden lässig. Selbst wenn andere ein Unglück trifft, bewahren wir Ruhe. „Alles nicht so schlimm. Auch das geht vorbei“, sagen wir sanft und sicher. Wie anders liegt die Sache aber, sobald es uns an den Kragen geht? Plötzlich ist alles nicht nur schlimm, sondern noch viel schlimmer. Wagt es einer, uns zu damit zu trösten, dass „auch das vorbei geht“, dann wollen wir nichts davon hören. Schließlich fühlt es sich für uns an, als wären wir im Schraubstock eingespannt. Es tut unglaublich weh. Klar zu denken scheint unmöglich. Ob wir uns jemals befreien können, ist ungewiss.  

Nicht umsonst heißt es, dass man einen Menschen erst kennenlernt, wenn man ihn in die Enge treibt. Denn im Angesicht von Schmerz und Nachteil verwandeln wir uns ohne Übung rasch zu Sklaven unserer Emotionen. Unsere Gesichter verziehen sich zu Fratzen, Wut und Ärger schäumen, so mancher Gentleman mutiert in Sekundenschnelle zur Bestie. Wie fest kneifen wir die Augen zusammen, um die Wahrheit gerade noch rechtzeitig zu übersehen. Statt zu beobachten, urteilen wir. Statt uns vorzubereiten, verharmlosen wir. Statt uns selbst zu hinterfragen, belächeln oder beschimpfen wir, was unsere Meinung nicht bestätigt. Das Credo lautet allzu oft: Rebellieren, ignorieren und fantasieren, um ja nicht zu akzeptieren.

Stellen wir uns jetzt aber zwei Typen vor, die es ähnlich achtlos halten mit den äußeren Umständen: Einen Boxer, der auf seinen Gegner losgeht, als wären dessen Arme gefesselt. Und einen Schachspieler, der so spielt, als wäre immer nur er selbst am Zug. Wir benötigen nicht viel Vorstellungskraft, um uns in beiden Fällen das Ergebnis auszumalen. Der erste wird ohne Deckung kämpfen und fürchterlich verdroschen werden. Der zweite wird schlechte Züge wählen und in Bedrängnis geraten. Rasch heißt es für die beiden K.O. und Schachmatt.

Denken wir nun aber zum Vergleich an einen Boxchampion und an einen Schachgroßmeister. Warum feiern sie im Ring bzw. am Brett einen Triumph nach dem anderen? Zuallererst deshalb, weil sie vollkommen anerkennen, was vor sich geht. Der beste Boxer kann den feindlichen Schlägen nur so geschickt ausweichen, weil er akzeptiert, dass auch sein Gegner vorhat, ihn zu treffen. Der erfolgreiche Schachspieler ist nur so schwer zu besiegen, weil er zu jeder Phase miteinberechnet, dass auch sein Widersacher die stärksten Züge finden könnte.

Halten auch wir es wie die letzteren. Vergessen wir dabei aber nicht, dass es für Objektivität eine ruhige Seele braucht, die nicht vom Kampf gegen die eigenen Affekte geblendet ist. Wut, Ärger, aber auch Euphorie trüben unsere Sinne und verleiten uns zu schrecklichen Fehlschlüssen. Dagegen reichen oft ein paar Momente der Stille, um das Gesamtbild wieder zu erkennen.

Schließlich bedeutet Akzeptanz häufig, sich von Vorurteilen und tiefen Überzeugungen zu verabschieden. Darum schreibt auch Mark Aurel in den Selbstbetrachtungen: »Wenn du wegen eines Ereignisses verzweifelt bist, ist es nicht die Sache selbst, die dir Sorgen bereitet, sondern nur, wie du sie beurteilst. Diese Beurteilung kannst du von jetzt auf gleich löschen.«

 

2. Frage dich, was du kontrollieren kannst

Staudämme in der Natur. Asylanträge für Ausländer. Deadlines für Projekte. Goldene Regeln im Unternehmen. Sparbücher für die Zukunft. Eheverträge zur Sicherheit … Die Liste ist unendlich – unendlich wie die Sehnsucht des Menschen nach Kontrolle.

So findet sich beinahe in jeder Gruppe auch diese eine Person, die die gesamte Situation kontrollieren will. Hektisch läuft sie hin und her, ist nur mit dem Außen beschäftigt, fällt anderen ins Wort, diktiert Stichworte, manipuliert, verschweigt, bestraft, schreit oder schwindelt, und am Ende schaut sie wiederum so angespannt und misstrauisch wie zu Beginn, weil es ihr nie so ganz zu gelingen scheint.

Kontrolle ist nur ein Wunsch. Nach den Lehren der Stoa hängt unser Lebensglück aber stark von unseren Wünschen ab. Erfüllen wir sie, sind wir glücklich, unglücklich bleiben wir aber, solange sie nicht wahr werden. Selbst das Wünschen ist eine Kunst, die gelernt sein will. Kaum einer bringt sie uns in dieser wunschschwangeren Gesellschaft bei. Denn während wir nach Reichtum, einem tollen Job, nach Gesundheit, hemmungslosem Sex und schönem Wetter verlangen, vergessen wir leicht, wie eingeschränkt, ja, wie winzig der Bereich ist, über den wir selbst bestimmen.

Unser Haus kann jeden Tag abbrennen. Der Reichtum kann uns jederzeit verloren gehen. Auch über unseren Körper haben wir nur begrenzte Macht. Selbst wenn wir pausenlos trainieren und komplett auf ungesunde Nahrung verzichten – wir sind dennoch nie gefeit vor Unfällen, Krebs, Corona und all den weiteren tausenden Krankheiten. Schon gar nicht entscheiden wir selbst darüber, wie andere Menschen uns wahrnehmen. Von manchen werden wir heiß geliebt, obwohl sie uns nichts bedeuten. Für andere wiederum tun wir alles und noch viel mehr, obwohl wir von ihnen jahrelang ausgelacht, ausgebeutet oder betrogen werden.

Letztlich gilt deshalb: um all das zu haben, was wir wollen, dürfen wir nur das wollen, was wir haben. Für die Stoiker bedeutet dieses bescheidene Glück, dass wir es aufgeben, all jenes kontrollieren zu wollen, worüber wir keine Kontrolle besitzen. Dass wir darauf verzichten, nach äußeren Gütern zu verlangen. Sie stehen nicht in unserer Macht, folglich werden wir keinen Tropfen unserer Emotion für sie vergeuden.

Stattdessen raten uns die Stoiker, dass wir uns einzig auf jene wenigen Dinge konzentrieren, die unserem Einfluss unterliegen. Das sind lediglich unsere Urteile und Handlungen, letztlich unser Verhalten. »Vertraue nicht auf deinen Ruf, auf dein Geld oder deine Stellung«, heißt es dazu bei Epiktet, »sondern in deine innere Stärke: deine Einschätzung dessen, was unter deiner Kontrolle steht und was nicht.«

 

3. Amor Fati

Diese Formel, die durch Nietzsche Berühmtheit erlangte, verstehe ich als Königsdisziplin der stoischen Lebenskunst. Meist wird sie als bloße »Liebe zum Schicksal« oder als »Liebe dein Schicksal!« interpretiert, was ihr aber lange nicht gerecht wird. Denn Nietzsche spricht in Bezug auf sein Schlagwort nicht so sehr vom Schicksal, als vielmehr von der Notwendigkeit der Übel.

So notiert er auch 1888: »Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann {…} meine Formel dafür ist amor fati… — Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth {…}«

Lange davor, nämlich im alten Rom, fasste Seneca bereits einen artverwandten Gedanken: »In keiner Lebenslage wird es dir an Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen fehlen, wenn du es über dich gewinnst, das Schlimme lieber für erträglich zu halten, als es dir verhasst zu machen.«

Bloß zu akzeptieren reicht also noch nicht. Wir sollen alles, was uns widerfährt, als unerlässlich begreifen. Alles, was uns an Schlechtem zustößt, als unseren ureigenen Weg, als unsere Brücke zu einem schöneren Stück Land auffassen. Nicht mehr länger über unsere Niederlagen klagen, nein, wir sollen gerade die Krisen und Rückschläge in unserem Leben bedingungslos lieben.

Freilich ist das ein Ideal, das uns nur schwer erreichbar erscheint, dennoch gibt es kaum einen Ausspruch, der nur so vor Mut und Lebensbejahung strotzt. In diesem Sinne: Amor Fati!

 

Meine stoische Buchempfehlung:

Seneca – Von der Gelassenheit

 

Weitere Artikel zum Umgang mit der Krise: 

Coroniken II – Bildernährung

Coroniken III – Gegenwart(en)

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Coroniken III – Gegenwart(en)

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Oft wollen wir etwas, was wir noch nicht haben. Wann wir es bekommen, wissen wir nicht. Also beginnen wir zu warten. Dabei opfern wir das kostbarste, worüber wir verfügen: die Gegenwart. Doch die Gegenwart ist das beste gegen-warten.

Nimm an, dein Bus kommt nicht. Schon in 15 Minuten beginnt in der Arbeit aber deine Präsentation, auf die du dich wochenlang vorbereitet hast. Alle Kollegen werden anwesend sein. Gestern ist dir sogar noch eine Idee eingeschossen, die dem Unternehmen langfristig helfen könnte. Doch ausgerechnet heute Verspätung! Bloß Autos und Lastwagen rollen um die Kurve. Dein Puls steigt, die Haut juckt, der Hund neben dir bellt immer lauter. Plötzlich fällt dir ein, dass du wegen der Präsentation auf den Geburtstag deiner besten Freundin vergessen hast. Was bist du nur für ein Mensch! Warum hast du dir keine Erinnerung eingestellt? Wie lange wird sie von dir enttäuscht sein? Sollst du ihr texten, oder sollst du lieber nochmal deine Präsentation durchgehen? … Und wann kommt endlich dieser verdammte Bus?

Jeder kennt es aus dem eigenen Leben: warten heißt leiden. Egal ob wir die Prüfungsnote, den Arztbefund oder die WhatsApp-Antwort von unserem Schwarm erwarten, wir sind währenddessen wie gelähmt. Während wir warten, verwirren sich unsere Gedanken. Dauernd erinnert uns das Gehirn daran, dass es noch immer nicht passiert ist. Vielmehr verlieren wir beim Warten unsere Präsenz. Die Gedanken driften ab, entweder in die Vergangenheit, zum Beispiel wenn wir bereuen, oder aber in die Zukunft, wenn wir hoffen oder etwas befürchten.

„Wenn ich es nicht bald bekomme“, denken wir, „dann kann ich höchstens noch das versuchen. Wenn das aber auch nichts hilft, dann ist alles vorbei. Dann krieg ich diese Chance nie wieder. Wahrscheinlich erfahren es auch noch die anderen, und dann, oh Gott, dann würden ja alle wissen, dass ich …“ – Und plötzlich pfeifen die Türen. Der Bus, auf den man eigentlich gewartet hat, ist abgefahren.

Eines muss uns klar sein: Beim Warten opfern wir stets die Gegenwart. Dieser Moment, das Hier und Jetzt, ist aber die einzige Wirklichkeit in unserem Leben. Vergangenheit und Zukunft sind Illusionen. Unsere Erinnerungen verändern sich mit uns. Was in vier Wochen sein wird, kann keiner mit Gewissheit vorhersagen. Niemand war jemals in einer der beiden Sphären. Kein Sieg, kein Kuss, kein unvergessliches Erlebnis hat gestern oder morgen stattgefunden. Es ist immer heute. Es bleibt immer jetzt. 

Statt aber zu beachten, wie schön die Knospen jetzt sprießen, starren wir durch die Zweige hindurch und fürchten etwas zu verlieren, was wir noch gar nicht haben. Statt den Text, den wir jetzt lesen, zu verstehen, stellen wir uns vor, jemanden zu überzeugen, der uns noch gar nicht kennt. Statt die Augen jetzt offen zu halten, rennen wir gegen Masten und andere Menschen, weil wir von etwas träumen, was wir gar nicht brauchen. Aufgrund der Warterei werden wir allzu oft blind für die Möglichkeit, die uns das Leben direkt vor die Nase setzt.

Schwer, schwer ist es, in der Gegenwart zu bleiben. Nichts fühlt sich aber schöner an, als gegenwärtig zu sein. Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen sich jeder Gedanke verflüchtigt. Alles wird leicht und frei. Und wir, wir werden ganz ruhig und so klar im Kopf, weil es nichts mehr gibt, was uns von diesem Augenblick ablenkt. Dagegen ist kaum etwas hässlicher als ein Mensch, der uns überhört oder übersieht, weil er sich völlig aus der Realität des Moments ausgeklinkt hat. Wir müssen ihn kneifen oder laut mit ihm sprechen, manchmal sogar weggehen, damit er uns bemerkt. Und wie oft waren wir selber dieser Mensch.

Gerade in unserer derzeitigen Lage macht uns das Warten leicht wahnsinnig. Wir fragen uns täglich, wann die Fallzahlen sinken, wann die Maßnahmen enden oder wann wir wieder in eine andere Stadt fliegen können. Wenn wir Filme sehen, ertappen wir uns bei dem Gedanken, dass sich die Menschen damals noch draußen treffen durften. Doch jedes Mal, wenn wir fürchten, dass wir aufgrund der Krise unser Geld und den Job verlieren könnten, verlieren wir in Wahrheit diesen Moment. Hängen wir verpassten Chancen nach, verlieren wir in Wahrheit die Chance auf das Jetzt. Bangend, hoffend oder wartend –  wir berauben uns selbst dabei um einen großen Teil unseres Lebens.

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Alle Probleme liegen hinter oder vor uns, die Gegenwart selbst hat keine Zeit für Probleme. Zum Glück ist dieser Moment viel zu kurz und flüchtig, um darin Hypothesen zu spinnen und Sorgen anzureichern. Und wenn wir nur in ihm bleiben, dann geschieht etwas Wunderbares: Wir werden mit allem fertig.

Wie aber bleiben wir im Moment? Antwort: indem wir etwas tun. Malen, singen, schreiben, Musik und Sport, kochen, spielen, tanzen, lesen, lernen, basteln, Yoga, meditieren, die Hauptsache ist, dass wir uns darauf konzentrieren und es mit Achtsamkeit tun. Wenn wir aber abdriften, macht das nichts. Es braucht nicht mehr als ein paar bewusste Atemzüge, schon sind wir zurück im Jetzt.

In unserem Leben gab es wohl niemals eine vergleichbare Gelegenheit, um uns genau darin zu üben. Es liegt an uns: wir können nun wochenlang auf bessere Zeiten warten. Oder wir können sofort die beste Zeit haben, indem wir aufhören zu warten.

 

Mehr zum Thema findest Du übrigens in diesem Buch von Eckhart Tolle:

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

 

Weitere Gedanken zur Überbrückung der Quarantäne gibt’s in diesen Artikeln der letzten Tage:

Coroniken I 

Coroniken II – Bildernährung

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

 

28. März 2020

Coroniken I

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 19.3.2020

Alles ändert sich ständig. Schon vor 2400 Jahren wusste Platon, dass jeder Zustand aus seinem Gegenteil entsteht. Das Ferne braucht das Nahe, das Große folgt aus dem Kleinen und das Junge aus dem Alten. Nach keinem anderen Gesetz verläuft diese neue Phase in unserem Leben.

Aus dem Trubel ist Stille geworden, aus dem Rausgehen der Rückzug. Dieses Gesetz vom Gegenteil wird sich aber besonders bewahrheiten, sobald die Beschränkungen nicht mehr gelten. Wie frei und unbegrenzt werden wir uns dann wieder fühlen, gerade weil wir uns jetzt so einengen müssen? Wie sehr werden wir es genießen, nicht auf unser Smartphone zu schauen, sondern in das wunderschöne Gesicht unseres Gesprächspartners? Wie groß wird die Vorfreude auf ein Treffen mit Freunden im Café? Wie ausgelassen werden wir feiern, wie leidenschaftlich werden wir lieben!

Binnen kürzester Zeit wird sich der Stillstand in eine Goldgräberstimmung verwandeln, die jeden noch so gelähmten Lebensbereich wieder aufwecken und mit Elan und neuem Mut befruchten wird. Erinnern wir uns gerade deshalb in den langweiligsten und dunkelsten Momenten daran: je tiefer diese Krise, desto höher gerät auch der Aufstieg danach.

In diesen Tagen verwandelt sich auch unser Verhalten in sein Gegenteil. Ansonsten stets in Eile, sitzen wir auf einmal daheim auf unseren Stühlen und Medizinbällen. Wir gähnen und strecken uns. Draußen hören wir den Wind wehen. Wenn alle um 18 Uhr klatschen und singen, ist das ein Highlight für uns.

Was ist bloß seit letzter Woche aus uns geworden? Noch bis vor wenigen Tagen bestand unser Alltag darin, täglich im Außen etwas zu wollen und selbst Erschöpfung und sämtliche Nerven zu riskieren, um es irgendwie zu kriegen. „Schnellstmöglich, zeitnah, prompt, bitte bei nächster Gelegenheit“, hieß es in unseren Emails. Auf den Straßen hetzten Menschen an uns vorbei, deren Gesichter wie Fratzen angespannt waren. Jedes Augenpaar schien krampfhaft nach etwas zu suchen. Kaum wagte man, länger als zwei Minuten mit jemandem zu sprechen, ohne sich schon unhöflich vorzukommen. Schließlich mussten wir ja beide ganz dringend irgendwo anders hin.

Nun aber? Emails haben Zeit. Auf der Straße halten wir Abstand. Die Menschen gehen langsamer, bedächtiger. Niemand rempelt uns, keine Ellenbogen fahren aus. Fremde winken und nicken einander zu. Plötzlich telefonieren wir mit Freunden. Ungezwungene, intensive Dialoge entwickeln sich wie von selbst, und keiner muss auflegen. Der Virus hat die Menschen nicht nur ängstlich, sondern auch freundlicher gemacht.

Vielmehr erhalten wir nun die Chance, uns besser kennenzulernen.  Es liegt an uns, ob wir diese Phase überhaupt bewerten oder beurteilen wollen. Wenn ja, dann haben wir aber die Wahl: entweder verstehen wir das Geschehen als große Depression oder aber als erholsame Pause, entweder fürchten wir, dass wir nachher nichts mehr haben, oder aber wir achten genau jetzt die Personen und Dinge, die unser Leben so liebenswert und schön machen.

Natürlich ist es eine Zeit der Unsicherheit, in der viele von uns einen Bericht nach dem anderen verschlingen und plötzlich jedes Detail über Cluster, Triagen, Virenstämme und Rezeptoren in der Lunge kennen. Hundertmal pro Tag werden wir vor etwas gewarnt; ähnlich oft fragen wir uns, ob wir die Krankheit ebenfalls bekommen, ob wir sie überleben werden, ob unsere Liebsten sie schon haben, ob unsere Eltern und Großeltern sicher sind, ob wir die Kaffeetasse noch am Henkel anfassen dürfen, ob die Wirtschaft kollabiert und ob der morgige Tag genauso zäh vergehen wird wie heute?

All diese Ängste und Sorgen werden uns in Wahrheit aber nicht aufgezwungen. Niemand anders, nur wir selbst erzeugen sie. Und wenn Viktor Frankl  es schaffte, seinem Leben sogar inmitten des Konzentrationslagers einen Sinn zu geben, dann werden wohl auch wir die Tristesse dieses Frühjahrs überstehen. Wenn Robinson Crusoe 28 Jahre auf einer abgelegenen Insel überlebt, dann werden wohl auch wir unser eigenes Zuhause für zwei oder drei Monate aushalten. Alles ist nur für den Moment, denn alles ändert sich ständig. Wir dürfen auch das Gegenteil von dem fühlen, was wir glauben, fühlen zu müssen.

Bleiben wir also gerade jetzt besonnen und bei uns. Beobachten wir gerade jetzt unser Inneres ganz genau. Wählen wir unsere Emotionen selbst.

Herzlichst,

Patrick Worsch

 

 

Über die Güte

Wien, am 20.12.2019

Das Wort »Güte« stammt augenscheinlich von »gut«. Was aber ist gut? Durch Argumente und Wertungen lässt es sich nicht ermitteln. Eine wahre Antwort darauf, was wirklich gut ist, erhalte ich nur von meinem Herzen. Wer gut handelt, erfährt dadurch Unbeschwertheit; wir ehren und lieben gütige Menschen, und wer gütig ist, der wird – vor allen Dingen – froh.

Das Wort »froh« ist weder mit Macht noch mit Ansehen verwandt; vielmehr mit der »Freude«, die in der Freundschaft und in der Freundlichkeit wohnt. Um herauszufinden, was uns froh macht, benötigen wir Beispiele, und suchen wir gewissenhaft nach ihnen, so landen wir bald bei Worten und Taten, mit denen wir unseren Mitmenschen helfen. Bei Handlungen, mit denen wir anderen eine Freude bereiten. Ganz gleich ob das Geschenk, das Kompliment oder der kleine Dienst: wer selbst froh sein will, macht andere froh.

Viele Menschen leben aber nicht miteinander wie Freunde, sondern gegeneinander wie Rivalen. Richtig, wir leben gegeneinander. Wer hat mehr Follower? Wer fährt teurer in den Urlaub? Welcher Schmuck funkelt heller? Welches Baby lächelt süßer? Wer hat den reicheren Mann, die schönere Frau? Wer ist bei irgendetwas der erste? – Durch die ständige Konkurrenz, die wir zu anderen Menschen aufbauen, erzeugen wir uns aber Stress, der unserem Körper nachhaltig schadet. Indem wir unsere Erwartungen unaufhörlich an neue Wünsche fesseln, legen wir unseren Geist in Ketten. Vor allem aber schadet das Vergleichsdenken unserer Fähigkeit zur Güte.

Der stetige Gegner der Güte ist das Ego. Es handelt und denkt für sich, für andere ist aber die Güte da. Während das Ego glaubt, sich zu erfreuen, wenn es mehr bekommt als jeder andere, begnügt sich die Güte damit, weniger zu wollen, anderen aber mehr zu geben. Güte bedeutet, weich und uneigennützig zu denken. Güte bedeutet, die Sicht und Situation des anderen nicht nur zu verstehen, sondern auch in die eigenen Entscheidungen miteinzubeziehen. Güte bedeutet, gewaltlos und friedlich zu bleiben, sanft zu blicken, zart zu sprechen und auch einmal zu schweigen, um anderen nicht zu schaden. Wer anderen nicht schadet, hilft sich selbst, und wer sich selbst hilft, hilft allen dadurch am besten.

Das zu beherrschen, dauert und es kostet Kraft, Geduld, mitunter sogar Beziehungen. Doch nur wer es schafft, seine ichbezogenen Gedanken und Gefühle umzuwandeln, kann gütig werden. Wahre Güte zeigt sich zwar nach außen, wird aber nur im Inneren bestätigt. Ich kann zehn Millionen Euro, drei Häuser, vier Ferraris, acht Firmen und fünfzehn Freundinnen haben: solange ich nicht gütig bin, werde ich damit nicht zufrieden sein. Jede neue Errungenschaft wird mich nur daran erinnern, dass es noch mehr zu holen und noch mehr zu verdienen gibt. Ich werde immer mehr Tabus brechen, um mich mit immer egoistischeren Menschen zu messen. Nach außen werde ich vielleicht erfolgreich erscheinen, innerlich werde ich aber betäubter, verlogener und immer ärmer. Je mehr ich meinen persönlichen Erfolg voranstelle, desto mehr Zeit wird mir für Güte fehlen.

Machen wir genau deshalb die Güte zu unserer obersten Regel. Ich will mein Ego in Güte verwandeln, das ist ein Credo fürs Glück. Was erfüllt uns schließlich mit mehr Frieden, als jemanden zu unterstützen? Wie viel Freude erfahren wir bereits, wenn wir einem anderen wieder auf die Beine helfen? Wie viel betrübter bleiben wir aber, wenn wir es anderen zeigen wollen? Wie depressiv stimmt es uns notwendig, wenn wir uns stetig in neue Erwartungen verstricken (lassen), die uns höchstens Äußerlichkeiten verschaffen können? Selbst wenn unsere äußerlichen Wünsche wahr werden, haben wir kaum Freude daran, weil es uns so viel Zeit und Energie gekostet hat, sie zu erfüllen, noch mehr aber, weil unser Ego bald schon wieder hungrig wird.

Güte ist die beste Antwort auf alles. Das weiß ich von meiner Oma.

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Über das Selbstbild

Wien, 7.4.2019

Siehst du dich so, wie wir dich sehen?

Von uns selbst haben wir alle ein Bild vor Augen. Verschwommen, klar oder fix, stets begleitet es uns. Wir sehen uns darauf aber weder lümmelnd am Bürotisch, noch wartend in der Kassenschlange. Eher erfüllen wir uns in diesem Bild unseren allergrößten Traum, oder aber wir scheitern daran. Unser Selbstbild entspricht weniger dem, was wir sind, als vielmehr dem, was wir uns zutrauen. Es zeigt uns, wie wir uns selbst einschätzen. Da aber niemand außer uns selbst den ganzen Tag mit uns verbringt, halten wir unser Selbstbild gerne auch für die beste Meinung über uns. Wir alle wollen, dass uns die anderen so einschätzen, wie wir uns selbst einschätzen. Denn keiner, glaube mir, keiner, glauben wir, kennt uns besser als wir selber.

Wie komisch wird es aber bereits, wenn wir bloß unsere Stimme auf einem Diktiergerät hören? Wie seltsam, wenn wir in einem Video durch das Bild laufen oder nur so rumstehen? Die eigenen Worte klingen da plötzlich fremd, unser Gang, die Haltung, ja unsere gesamte Körpersprache verrät sogar weit mehr von uns, als wir über uns selbst wussten. Es sieht nicht nur anders aus, es fühlt sich scheinbar von außen auch ganz anders an, mit uns zusammen zu sein, als es sich anfühlt, wir zu sein.

Dabei beginnt schon unsere Selbstsicht paradox. Wenn wir uns nämlich betrachten, dann tun wir das in einem Spiegel, in dem uns aber links als rechts und rechts als links erscheint. Sobald sich dieses Spiegelbild in uns einprägt, denken wir schon seitenverkehrt von unserem Körper. Aus einem einzigen Blickwinkel obendrein. Zu unserem Selbstbild gehören aber nicht nur Sinneseindrücke, sondern auch Bekanntschaften und Erlebnisse, die wir täglich vermehren und die wir mit Gefühlen und Gedanken verarbeiten und beurteilen. Aus unseren Urteilen ergeben sich unsere Einstellungen, und aus diesen formen sich schließlich unsere Träume, Ziele und unser Charakter. Oh, wir merken schnell, was uns Lust und Ekel bereitet! So beginnen auch gewisse Menschen, Moden oder Musikrichtungen zu unserer Selbstwahrnehmung zu passen. Mit anderen können wir weniger anfangen, wieder andere verachten wir sogar, weil sie unseren tiefsten Grundsätzen oder unserem Geschmack widerstreben.

Über unseren Platz in der Welt entscheiden letztlich wir selbst, jedoch nicht allein. Da wir es aber bequem mögen, verlassen wir uns dabei allzu gerne auf unsere ureigene Sicht auf uns selber. Sie ist sanft, meist beleuchten wir uns darin mit weichem Licht. Daher wählen wir oft auch Tätigkeiten, die unseren Tagträumen und Lüsten entsprechen, selten aber unseren natürlichsten Stärken. So kämpfen wir oft auch um Dinge, die wir vom Leben nicht bekommen. Oder wir zermürben uns lange Zeit für Ziele, die uns nicht bestimmt sind. Vielleicht wäre es ja, ganz nach Platon, wirklich der größte Vorteil für die Gesellschaft, wenn jeder Mensch sich darauf besinnt, wozu sich sein Charakter am besten eignet. Wer weiß das aber mit Bestimmtheit? Und selbst wenn, wer vergisst das nicht im Regen der Reize, der täglich durch Fernsehen und Internet auf uns herab prasselt?

Freilich gibt es ab und an ein paar Glückliche, bei denen sich Beruf und Berufung vereinigen und auch lohnen, viel häufiger reden sich Menschen aber eine einzige Berufung so lange und so fest ein, bis rundherum ein Pechschwarz entsteht, dass ihnen andere Möglichkeiten nicht nur verdunkelt, sondern auch verbietet. Zu viele Ansichten werden dadurch fix, zu viele Selbstbilder versteinern.

In der Regel eignen wir uns leider nicht dazu am besten, was uns selbst den meisten Spaß bereitet oder wofür wir die tiefste Leidenschaft empfinden. Unsere Leidenschaft ist für uns selber, für die anderen ist aber unsere Aufgabe. Am besten eignen wir uns daher für Tätigkeiten, die wir auf Anhieb beherrschen, bei denen wir von anderen prompt und ohne Aufforderung gelobt werden, die wir mitunter gar nicht im Blick haben wie die eigene Nase. Es sind eben jene Tätigkeiten, mit denen eine gewisse Wurstigkeit verbunden ist, Tätigkeiten, durch die wir niemandem etwas beweisen wollen, weil wir sie ohnehin mühelos beherrschen. Doch was uns wirklich entspricht, sind wir ehrlich, das langweilt uns auch bald. Gerade dieser gesunde Abstand hilft und schützt uns aber davor, uns selbst in unserem Tun nicht zu ernst zu nehmen.

Wer aber möchte nur das werden, wofür ihn andere halten? Wer will beispielsweise Lehrer sein?, wenn die Eltern schon immer sagten: Du bist der geborene Lehrer. »Vielen Dank«, vermeldet da der Trotz, »aber ich weiß besser, was gut für mich ist! Und ich bin garantiert alles, nur kein Lehrer!« Und so versteckt die Schöne in vielen Fällen ihre Schönheit, um nicht darauf reduziert zu werden. So schwingt sich der Informatiker mit Seidenschal auf ein möglichst rostiges Fahrrad und dichtet auf einer Wiese ein Sonett. So reden sich Menschen, die geborene Helfer wären, ihr Leben lang ein, sie müssten als taffe Egoisten auftreten, weil sie einmal im Film den rücksichtslosen Firmenmogul bewundert haben; so vernachlässigen Leute mit den ehrlichsten Elterninstinkten ihre Familienplanung, nur um die Mutter oder die strenge Tante davon zu überzeugen, dass sie doch Karriere machen können. Und umgekehrt. – Was wir in Wahrheit sind, scheint uns immer weniger zu interessieren. Wie wir den anderen aber erscheinen möchten, wird allzu oft die bittere Wahrheit über unser Leben. Im schlimmsten Fall ist sogar unser Selbstbild maskiert.

Von einem klugen Mann habe ich einmal gehört, dass uns nichts so sehr im Weg steht wie unsere eigene Meinung. Denn zumeist sind es nicht die blöden Kollegen oder die Verwandten, nicht die gemeinen Mitschüler oder die Fremden, die uns aufhalten. Zumeist sind es nur unsere eigenen Vorstellungen, die sich eben vor uns stellen, um uns die klare Sicht auf die Dinge zu rauben.

Wir sollten gerade dann vom Gas gehen, wenn wir von etwas zutiefst überzeugt sind. Kaum etwas behindert länger, kaum etwas stellt uns mehr Stoppschilder und Feinde und Mauern vor das Glück – als unsere Überzeugungen. Statt sie aber ständig zu prüfen, zu lockern und zu verwerfen, verteidigen und stützen wir sie mit allem Trotz und trotz allem, bis sie in uns festfrieren. Gleichsam reden wir uns ein, dass es uns egal ist, was die anderen über uns denken. Die werden schon noch sehen, sagen wir. Wenn die wüssten, grinsen wir im Dunkeln, ohne es besser zu wissen. Denn ganz gleich wie stur und starr wir uns selbst in dem Bild einsperren, in dem wir seit Jahren zu sein glauben – wofür uns andere halten, was sie von uns denken, was sie uns verbieten und erlauben, das wird unser Leben bis zu unserem Tod nachhaltig beeinflussen und mitbestimmen.

Ein junger Mann etwa, der in seinem Selbstbild ein geborener Anführer ist und sich deshalb vor jeder einfachen Arbeit verschließt, der kann niemals führen, solange er von anderen nicht ebenso als Führungsperson eingesetzt und akzeptiert wird. Eine Frau, die sich für ein Genie hält, kann weiter nur ihrem Kätzchen die Wahrheit über die Welt erzählen, solange keiner bereit ist, ihre Ansichten auch als Wahrheiten an Dritte weiterzugeben. Ja, selbst ein talentierter Prahler, der weit über seine Verhältnisse lebt, um den anderen einen reichen Lebensstil vorzuschwindeln, selbst dieser Gentlemen wird früher oder später davon bestimmt, was die Zuständigen bei seiner Bank über ihn und seine Kontobewegungen denken.

Da wir niemals von der Außenwelt losgelöst sein werden, gilt es unser Selbstbild mit jenen Bildern, die unsere Mitmenschen von uns haben, in Einklang zu bringen. Auch wenn das irritiert oder wehtut, bleibt jeder dazu fähig. Gerade unsere gesündesten Erkenntnisse zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie uns anfangs wurmen und dass wir sie überhaupt nicht wahrhaben wollen. Hier ist es nicht anders: denn egal wie genau wir uns selbst kennen und egal wie viele unserer innersten Vorgänge uns bewusst sind, egal wie lange wir über dies und das nachgedacht, egal wie tief und wie reif wir uns bei der Seelenschau empfunden haben, im Endeffekt gilt:

Du selbst hast nicht das beste Bild von dir. Du selbst hast nur einen kleinen Blickwinkel auf dich. Um aber den ganzen Diamanten deiner Persönlichkeit zu erkennen, benötigst du andere Perspektiven auf dich. Über diese verfügen jene, die dich täglich sehen und hören, die dich lange Zeit kennen, die das meiste über deine Beziehungen und über deine Umgebung wissen. Statt unser fixes Selbstbild also mit noch mehr Hammerschlägen in unsere Fantasie zu nageln, sollten wir demnach nicht nur auf uns selbst und eben nicht nur auf unser Herz hören, sondern Menschen fragen, denen wir am Herzen liegen, aber auch solche, die nicht emotional mit uns verbunden sind. Apropos: Warum nicht auch mal mit jenen über unsere heikelsten Themen reden, vor denen wir die heiklen Themen ansonsten mit Absicht verschweigen? Schließlich sieht jeder andere etwas von uns, was unserem eigenen Blickwinkel versperrt bleibt.

Unglückliche Menschen haben ein verschobenes Selbstbild, sagt man. Sie reden anders als sie fühlen. Sie fühlen anders als sie handeln. Sie wollen etwas anderes als sie wünschen, und oft suchen sie ihr Glück noch immer in Personen, Dingen oder Projekten, unter denen sie schon zu lange Zeit leiden. Sie fühlen sich verkannt. Bei überaus glücklichen Menschen habe ich aber die umgekehrte Beobachtung gemacht: Ihr Selbstbild deckt sich mit jenen Bildern, die andere von ihnen haben. Die Glücklichsten schätzen nicht nur ihre Mitmenschen; sie werden von ihren Mitmenschen auch als die (ein)geschätzt, die sie wirklich sind.

Ich hoffe, dass auch jeder von uns diese Bildbalance eines Tages erreichen wird. Vielleicht ist ja der erste Schritt dorthin, sich für Blickwinkel zu öffnen, die uns bislang absurd erschienen sind.

Herzlichst,

Patrick Worsch

Über die Freude

Wien, 21.12.2018

Es fällt jedem leicht, sich zu ärgern. Dazu genügt schon ein Fleck an der Wand oder eine kleine Kränkung, die sitzt. Selbst an einem schönen Tag, der mit einem Lob vom Chef begann, reicht ein schnippischer Kommentar von einem frustrierten Kollegen oder einem Verwandten, um uns von der Wolke der Wonne direkt ins Tal des Trübsinns zu stürzen. Sicher, manche überlächeln den Zorn gekonnter als andere. Hinter der Maske zwickt es dennoch. Ha, und wenn es doch nur Aussagen wären! Bekanntlich ärgern wir uns ja auch darüber, was andere machen oder nicht machen, dass die Sonne nicht scheint oder dass sie uns ins Gesicht scheint, dass andere etwas erreicht haben, was wir verdient hätten, dass wir aber viel mehr verdienen, als die anderen uns erreichen lassen. Die Radfahrer regen uns auf. Freunde, die sich absichtlich nicht für uns freuen, verderben uns den Spaß. Ja, manchmal ärgern wir uns auch über Leute, die uns im Traum geärgert haben. Und wenn wir ehrlich sind, wir Fantasievollen, dann ärgern uns sogar Dinge, die noch nicht einmal eingetroffen sind. Unserem Körper ist dabei übrigens egal, ob der Seelenschmerz sich auf ein reales Ereignis bezieht oder von uns zurecht gegrübelt wurde, damit wir uns weiter ärgern können. Unser Körper ärgert sich in beiden Fällen gleich. Und in beiden Fällen wehrt er sich gegen den Ärger notwendig mit Schmerz und Unlust, ganz gleich ob mit Magenkrampf oder der Einschlafstörung.

Sich nicht zu ärgern, ist ein Anfang, glücklich werden wir aber erst, wenn wir uns freuen können wie ein Kind. Wer aber darf sich heute noch so freuen? Nicht mal mehr die Kinder selbst? – Du hast ein Sehr Gut auf die Englisch-Schularbeit? Well done! Aber nächste Woche ist schon Mathe. Freu dich nicht zu viel und schau gefälligst, dass jetzt nicht der Schlendrian bei dir einkehrt. – Du hast deinen Bachelor geschafft? Großartig, aber heutzutage ist jeder zweite Bachelor, und zwar mit 23. Und mit 25 ist jeder dritte Master. Also, verlier nicht noch mehr Zeit mit Feiern und Nichtstun! – Heute ist Sonntag, und du bist euphorisch, weil du gleich deine Familie triffst? Am liebsten würdest du sie umarmen und herzen und dich vor Lachen verausgaben? Kommt überhaupt nicht in Frage. Morgen ist Montag und du benötigst die Energie für die Arbeit. Wichtige Meetings stehen an!  Wenn du hier zu ausgelassen bist, fehlt dir morgen die Konzentration, du bringst keine Leistung, wirst gemahnt und musst dich in weiterer Folge doppelt anstrengen, um am Ende nicht gekündigt zu werden.

Wie, liebe Leser, wie konnte es so weit kommen? Wann haben wir eigentlich verlernt, uns von Herzen zu freuen? Natürlich, es ist klar: wenn wir ohne Sinn für Konsequenzen und mit einem Hass gegen Wenn-Dann-Sätze durch die Welt hüpfen, dann werden wir bestimmt zu viele harte Stürze erleben. Wenn wir aber andererseits niemals stürzen, weil wir aus Misstrauen und Vorsicht niemals losgegangen sind, nun, dann werden wir bald in einer völlig freudlosen Sicherheit panisch werden.

Freude ist mehr als nur ein Lächeln. Sie kostet uns nichts und verschafft uns alles. Sie lässt uns altwerden, und die Wut lässt sie gleichsam alt aussehen. Die Menschen klingen lieber, das Essen duftet besser, wenn wir uns freuen. Die Freude an sich verschafft uns bereits ein Hochgefühl, sich für andere zu freuen, ist aber das beste Geschäft für den Körper. Die Freude verdoppelt, verdreifacht sich dann, und außerdem, das wusste bereits Nietzsche, macht nicht Mitleid, sondern erst Mitfreude einen echten Freund.

Sobald wir wagen, das Licht in uns zu leben, wird der Körper uns mit ganz vielen lustigen Botenstoffen versorgen, die uns hübsch und gesund sein lassen. Das Beste ist aber: sobald wir uns freuen, freut das alle, die uns liebhaben. Unser Sonnenschein wird Freund und Freundesfreund, unsere Familie und sogar Fremde anstecken und lächeln lassen. Hasser, die uns beschimpfen, uns schlechtmachen und die sich sogar selbst schaden würden, damit sie uns das kleinste Übel bereiten, die werden auch weiterhin aus dem Boden schlüpfen, wohin wir auch flüchten. Selbst diese Damen und Herren regen wir aber zum Nach- und Umdenken an, wenn wir ihren Ärger nur mit Freude beantworten.

Also, lieber Leser, auch du darfst dich freuen! Auf Weihnachten. Auf deine Zukunft. Über dich. Und ohne Grund – einfach so 🙂

In diesem Sinne wünsche ich dir ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Herzlichst,

Patrick Worsch

MACHT – Teil 3

Teil 1 & Teil 2 zuerst lesen…

 

III.

Man kann sich denken, wie sich diese Nachricht auf meine Stimmung auswirkte. Zuerst hielt ich sie für einen Scherz, aber Furchius zitierte die Argumente und Kampfparolen des Volkes. Ich verbot ihm den Mund. Nachdenklich irrte ich durch mein Schlafgemach und sah in die krebsroten Gesichter meiner Lakaien. Mein Zehenfeiler Kriechiphos zuckte mit den Augenlidern; das tat er nur, wenn er sich fürchtete. Plötzlich drangen Schreie in den Palast. Ich schickte Kriechiphos zum Fenster. Er guckte hinaus und schlug sich die Hände vor den Mund. Auch ich bückte mich und schlich zur Scheibe, starrte hinab zum goldenen Gitter, das meinen Palast umrandete. In der Tat, da surrte sie, die aufgehetzte Meute. Es waren tausende, bemalt mit Blut und Dreck, bewaffnet mit Messern und Beilen und spitzen Steinen. Sogar Kinder zielten mit Pfeil und Bogen. Am Gitter hievten sie sich schon mit Räuberleitern empor und schrien Schlachtgesänge: »Keine Hoffnung und kein Brot, König Satan du bist tot!«

Meine Gefolgschaft keuchte und diskutierte. Ich verteilte die Schuld. Die Hysterie erhitzte den Raum. Nur Furchius, mein engster Berater, schien ruhig, beinahe gelassen.

»Hochwohlgeborene Exzellenz«, sagte er, »am besten sehe ich am Tor nach dem Rechten. Die Leibgarde Eurer Majestät, versteht sich, wird den Pöbel zurückdrängen.«

»Warte Furchius!«, rief ich, doch er war schon verschwunden.

Trotz der Warnungen von Nagelfeiler Kriechiphos und Toilettengehilfe Grindius, trat ich auf den Balkon, um mich den Egoistern zu zeigen. Ich gestikulierte mit dämpfenden Handbewegungen und heuchelte Ruhe. Ehe ich etwas ausrief, zerplatzte schon ein Ei auf meiner Schulter. Als man mich wieder hineinzog, erhaschte ich einen letzten Blick zum Tor. Aber was sah ich dort? Furchius, niemand anderer als dieser kleine Bastard Furchius, öffnete ihnen das Tor. Das Rebellenrudel zwängte sich durch und grölte vor geiler Wut, indessen meine Palastwache ohne Widerstand zur Seite wich.

Wir flüchteten. Ein paar Leibwachen, Kammerdiener und meine kreischende Mätresse Niniphelia begleiteten mich in die Katakomben. Wir gelangten in ein Labyrinth aus Geheimgängen. Wir wateten in die Dunkelheit, die Ratten mehrten sich.

»Majestät, beeilt Euch«, rief Kriechiphos.

»Was erlauben sich die Stinktiere?«, rief ich.

»Furchius denkt, er sei ein größerer König als Ihr. Dieser Zwerg war es, der euch verriet!«

»Woher weißt du das?«, schrie ich, stoppte und ließ diesen verräterischen Diener mitten im Rattenkot erdolchen.

Zwei Kurven weiter sahen wir Licht.

Ich kroch als erster durch die Luke und erstarrte. Man erwartete mich bereits. Gut hundert Rebellen kesselten mich ein. Ebenso viele Sperrspitzen zielten auf meinen Kopf. Alle grinsten. Ich duckte mich und wollte zurück in die Katakomben, aber sie packten mich an allen vier Gliedmaßen, warfen mich auf den Waldboden und schlugen mit den Beilen auf mich ein. Aber scheinbar wollten sie, dass ich weiterlebte. Ein Kommando verbot, mich länger zu schlagen. Stattdessen wurde ich gefesselt und geknebelt; meine Augen verbanden sie mit einem stinkenden Tuch.

Lange hörte ich viel, spürte aber nur Schmerzen aufgrund der Schläge. Sie beglückwünschten sich und beschimpften mich, mehr nicht. Kaum gab man mir die Sicht zurück, wurde ich wieder zu Boden gestoßen. Nach einiger Zeit erkannte ich Konturen. Ich war in einem Verließ, Rost an den Gittern, der Boden aus Schlamm. Es stank nach verfaultem Obst und Verwesung. Meine Haut war blau und geschwollen, mein Schienbeinknochen lag frei. Und mein Gesicht, das sich in einer Pfütze spiegelte, glich dem Werk eines besoffenen Bildhauers. Zwei Seitenzähne tropften hinein.

»Ihr undankbaren Fratzen!«, schrie ich mit der Hand auf der Backe, »ich bin euer König! Ich herrsche über alles, was ihr kennt! Lasst mich frei, oder ich töte eure Frauen! Eure Freunde töte ich! Eure Diener, Sklaven und Schuldner töte ich! Eure Kinder lasse ich vor euren Augen aufspießen!«

Nichts geschah. Nur höhnisches Gelächter drang aus der Ferne in meine Zelle. Ob es meinen Worten galt, wusste ich nicht.

Erst Stunden später hörte ich Schritte. Im schwachen Schimmer, der durch die Mauerritzen drang, erkannte ich auf den Treppen Sandalen.

»Wer bist du?«, rief ich, als sich der Fremdling näherte. Ich schlitzte meine Augen, doch seine obere Körperhälfte blieb im Schatten. »Furchius, bist du es, du elendiger Judas?« Stille. Indessen erkannte ich, dass es nicht Furchius sein konnte. Vieles hatte ich den Egoistern gezeigt, aber es gab mit Sicherheit noch keine Schönheitschirurgie, und Furchius hatte ja verformte X-Beine. Dieses Paar war aber wohlgeformt und auch nicht so behaart.

»Erkennst du mich?«, sagte die Stimme und ein Männerkopf tauchte ins Licht. »Bei unserer ersten Begegnung hatte ich noch keinen Namen, nun aber nennt man mich Dreistius.«

Wer war er? Ich sah in ihm nur einen beliebigen Verräter, der demnächst mit seinem Leben büßen würde.

»Sieh mich an und erinnere dich«, sagte er.

Da erkannte ich ihn. Schock. Was machte der hier? Vor mir stand kein anderer als jener Mann, der mich bei meiner Ankunft auf diesem Planeten auf der Wiese empfangen hatte – mit offenen Armen. Er hatte mich seiner Gemeinschaft als Bruder vorgestellt, hatte mich in seinem Haus übernachten lassen, dieser Mensch hatte mir alles gezeigt, meinen Hunger und meinen Durst gestillt. Ich erbleichte.

»Du hast Elend und Schande über uns gebracht«, sagte er. »Bevor du ankamst, lebten wir friedlich und genügsam. Wir waren fromm und hilfsbereit, hörst du. Erst du lehrtest uns das Böse. Wegen dir streben wir nach mehr und noch mehr, wegen dir hassen und neiden wir, wegen dir existiert die Eitelkeit. Sieh, was du aus uns gemacht hast.«

»Das war nicht ich«, rief ich. »Ihr habt euch das selbst angetan, ihr allein! Ich.. ich habe euch bloß geholfen!«

»Hilfe, mein Freund, sieht anders aus. Hilfe erzeugt keine Klassen und keine Armut, sie beschert einem weder Krieg noch Mord, und schon gar nicht kennt Hilfe die Gewalt, wie du sie einsetztest, um uns für deine menschlichen Zwecke zu benutzen. Du hast uns vermenschlicht, hörst du, aus Heiligen machtest du Bestien, und deinetwegen werden wir nie wieder so leben können wie zuvor. Unsere Körper hast du geschunden, unsere Schwestern und Brüder verbrannt, hast unsere Hirne mit deinen dunklen Gedanken vergiftet. Und nun brauchen sogar wir Gewalt, um dich heute Abend für deine Taten endlich zu bestrafen.«

»Wie kannst du dich erdreisten!«, schrie ich. »Ich bin dein König!«

Dreistius schüttelte den Kopf.

»Du bist gar nichts«, sagte er, »kein König, kein Bruder und kein Freund.«

Weiteres Geschrei überhörte er. Er ließ mich allein. Viele Stunden wand ich mich vor Schmerzen im Schlamm, bettelte um Gnade und erschrak bei jedem Blick in die Pfütze vor meinem Spiegelbild. Weinen wollte ich, aber das gelang mir nicht. Denn zum Weinen war ich bereits zu hochmütig, zu stolz. Vielmehr kreischte ich Wörter wie Schmach und Verrat, verfluchte Gott und das Universum, und ich verfluchte Furchius, den mir meine Fantasie schon als neuen Herrscher mit Schwert, Umhang und Krone auf meinen Thron setzte.

Schließlich sank ich zusammen und winselte nur noch. Der Schlaf dauerte nur wenige Minuten. Plötzlich Schritte. Diesmal von vielen Füßen. Meine Zelle wurde aufgesperrt. Maskierte Männer traten ein. Sie packten mich ohne Worte, hoben mich auf, drückten mich mit der Wange gegen die Mauer, fesselten und knebelten mich. Wieder stülpten sie das Tuch über meine Augen. Dann kickten sie mich aus der Zelle, die Treppen empor, auf einen langen Pfad der Stille. Nichts als Schritte und Atmung.

Aus der Ferne erklang Trommelwirbel. Ich hörte Gekreische, bald filterte ich einzelne Worte aus dem Chor. Wüste Beschimpfungen waren das, die man von allen Seiten auf mich schleuderte. Etwas Hartes, vermutlich ein spitzer Stein, traf mich an der Stirn. Ich jaulte und fiel hin, wurde im nächsten Moment unter den Achseln gepackt und hochgerissen. Wiederum Treppen, dieses Mal hölzern, knarrend, nach oben führend. Ich wurde an etwas festgekettet. Ein Schlüssel klirrte. Man entfernte mir die Augenbinde.

»Foltert ihn!«, schrien die Egoister. »Verstümmelt ihn, bratet diesen Bastard wie ein Huhn!«

Eine Menge, breiter als mein Blickfeld, starrte mit weit aufgerissenen Augen zu mir. Ein Meer der Fratzen. Geballte Fäuste, Spott, lächelnde Lippen. Sie drängten sich vor, um mich anzuspucken. Ich befand mich auf einem Podest. Man hatte mich an einen Pfahl gefesselt, der in einem Kreis aus Gehölz stand. Die vermummte Gestalt auf der Treppe wartete mit einer Fackel in der Hand. Das war mein Henker, und ich war am Scheiterhaufen.

Doch bevor sie die Flammen auf mich losließen, wurde ich zum Aufwärmen gesteinigt. Mein Kopf wich aus und verrenkte sich dabei. Die Steine trafen mich trotzdem. Zumindest empfand ich ein Quäntchen Genugtuung, als ich neben mir weitere Scheiterhaufen entdeckte. Links und rechts von mir reihten sie sich auf wie Fleischspieße am Grill. Ich erkannte sogar die anderen Todeskandidaten. Allesamt waren Vertraute und Wohlbekannte. Zu meiner Rechten mein Nagelfeiler Kriechiphos, das Haupt gesenkt, die Stirn zuckend, ein lebender Leichnam. Neben ihm Niniphelia, die hochmütigste meiner Mätressen, die in ihrer Arroganz anderen eine noch größere Arroganz vorgeworfen hatte, eine selbständige Selbstdarstellerin mit verschobenem Selbstbild, im Schönheitswahn, eine Frau, die aus Eifersucht zwei hübschere Kammerzofen vergiftet hatte. Was mich aber erstaunte, das war der Scheiterhaufen zu meiner linken. An ihm wand sich Furchius. Aufgrund seiner Zwergengestalt war sein Pfahl höher, ansonsten hätte man ihn gar nicht entdeckt hinter dem Holz. Dreistius hatte ihn wohl überlistet. Unter allen Gefangenen war Furchius der lauteste. Noch weibisch schriller als sonst jammerte er um sein wertvolles Leben. »Welch Genie, welch Genie geht mit mir zugrunde!«, schrie er, während die Steine seine X-Beine trafen.

Dreistius trat vor die Menge. Alle schwiegen, wie eine Sekte vor der Opfergabe.

»Hört her«¸ rief er, »vor euch seht ihr jene Bestien, die unseren Planeten mit Seuchen, Gewalt und ihrem Egoismus verkommen ließen. Allen voran der ehemalige Bekehrer und Herrscher, der unsere Unschuld ausnutzte, um Macht über uns zu gewinnen. Fortan erwähnen wir ihn nie wieder.« Die Egoister jubelten und weinten vor Freude. »Liebes Volk«, fuhr Dreistius fort, »wir haben diese Verbrecher gestürzt, und nun wollen wir sie bestrafen. Der Wille Gottes, unseres Herren, soll nun an ihnen verrichtet werden!« Alle bekreuzigten sich und riefen: »Amen!« Von wem hatten sie das bloß gelernt?

Dreistius verlas die Todesurteile. Völkermord, normaler Mord, Betrug, Sklaverei, Blasphemie und dutzende Verbrechen gegen die universale Gemeinschaft wurden mir vorgeworfen. Furchius wurde zudem wegen Münzenfälschung, Freiheitsberaubung, Possenreißen, Schmeichelei, dem maßlosen Streben nach dem eigenen Vorteil und wegen Sodomie zur Rechenschaft gezogen.

Jeden Vorwurf begleitete Jubel, was die Angelegenheit um eine gute Stunde verzögerte. »Wir vertrauten deiner Masche, bald bleibt nichts von dir als Asche!«, posaunten sie. Und da empfand ich zum ersten Mal Reue. Was hatte ich getan? Sie hatten Recht. In der Tat, ich war Lucifer, ein Unwesen, das mir nichts dir nichts eine Gemeinschaft gemein gemacht hatte, verteufelt hatte ich diese Wesen. Ich war das Böse. Ich war ein Massenmörder. Ein Tyrann. Ein wahrer Egoist, eben ein Mensch. Ich verdiente den Tod. Wieder wollte ich weinen, aber dazu war ich schon zu schwach.

»Verbrennt sie!«, rief Dreistius.

Synchron traten die Fackelträger zu den Richtplätzen, streckten die Arme und setzten das Gehölz in Brand. Nur meines hatten sie, wie absichtlich, nicht mit derselben Flüssigkeit eingeölt. Ihnen lag wohl viel daran, dass der Obergauner zuerst zusehen musste, ehe sie ihm den eigenen Tod zugestanden. Und wahrlich, es wurde ein schreckliches Spektakel. Alle husteten und kreischten, rosa Fleisch schwärzte sich. Man wusste nicht, ob sie verbrannten oder erstickten. Am schlimmsten schienen die Qualen des Furchius. Schon als die Flammen seine Sohlen kitzelten, schrie er schriller als hysterische Frauen, die Aufmerksamkeit benötigen.

Ich schloss ab mit meinem Leben. Der Tod war eine faire Lösung für meine Vergehen. Oh wie jämmerlich, wieder begann ich zu beten, obwohl ich während meines Lebens auf der Erde niemals an Gott geglaubt hatte. Aber da berührten mich bereits die ersten Zacken. Ich hörte meine Haut knistern und das Publikum grölen. Die Eltern nahmen ihre Kinder auf die Schultern, und die Kinder lachten und klatschten. Ich dachte an Hitler, der rechtzeitig Selbstmord beging. Sogar beim Sterben ein Verbrecher! Bald sah ich zu meinen Beinen, die sich zersetzten und schwärzten, wie das Feuer meine Kniegelenkte entblößte und die Oberschenkel Zentimeter für Zentimeter verkohlten. Ich flehte um Ohnmacht, blieb aber bei Bewusstsein und schnappte nach den letzten Bläschen Sauerstoff. Die Meute war von mir belustigt.

Als die Flammen meinen Hals erfassten, dachte ich: ›Sterben heißt also nicht zu sterben!‹ Ein rubinroter Zacken streifte mein Kinn und fuhr in meine Augen. Alles wurde schwarz. Ich fiel in dieselbe Dunkelheit, die ich von meinem Sturz ins schwarze Loch kannte.

Dann bin ich aufgewacht. Über mir wackelte noch der Laternenmast.

 

 

MACHT – Teil 2

Teil 1 zuerst lesen… 

II.

Hinter mir lagen also der Sturz in das schwarze Loch, die Landung am Zwilling der Erde und schließlich die Begegnung mit jenen Wesen, die des Menschen Aussehen besaßen, jedoch menschheitsfremd lebten. Nach einigen Wochen wurde mir ihre Liebenswürdigkeit so eintönig und fad, dass ich diesen Zustand nicht mehr ertrug. Ihre Lieder quälten meine Ohren, und für die netten Gesten empfand ich nichts als Abscheu. ›Was für Neandertaler!‹, dachte ich, und dann schwirrten mir zum ersten Mal revolutionäre Pläne durch die Fantasie. Der Tatendrang kitzelte mich in den Fingern. Und so beschloss ich, dieses Völkchen zu bekehren. Mich selbst sah ich dabei in der Rolle eines Kreuzritters.

Die Tugenden meiner Freunde, auch wenn ich sie angepriesen hatte, erschienen mir plötzlich wie Makel. Sollen sie in Harmonie leben – gut! Sollen sie sogar beim Sterben lächeln – okay! Was geht das aber alles mich an! Ich sah bloß noch Denkfehler und Schwächen, die sie daran hinderten, ihren fruchtbaren Planeten als Herrenrasse zu beherrschen. Eine Zeitlang rang der Christ mit dem Pionier in mir, aber eines Abends übermannte mich die Vorstellung, ich hätte hier einen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Deshalb berief ich die erste Versammlung ein, die jemals auf diesem Himmelskörper stattfand.

Hunderte Augenpaare starrten zu mir hoch, ahnungslos und ohne Vorurteile. Wenn ich sie von diesem Felsen aus musterte, glichen sie Plastilin. Nur ich entschied, wie ich es formen wollte. Da mich schon ein paar von ihnen über meine Herkunft ausgefragt hatten, begann ich meine Rede mit einer Beschreibung der Erde. Ich berichtete von Staaten und Regierungen, erklärte ihnen die Technik und stellte ihnen Gott vor; ihre Lebensweise bemängelte ich mit einem Steinzeit-Vergleich, verglich sie selbst mit Insekten und Schädlingen, kritisierte das Fehlen von Handel und Wirtschaft, und ich echauffierte mich über die kümmerliche Ausschöpfung ihrer Ressourcen. »Was tut ihr bloß?«, rief ich, »Wozu habt ihr euer Bewusstsein, eure Intelligenz? Wie Tiere lebt ihr! Wir müssen euer Dasein von Grund auf verändern! Das heißt, wir verbessern es! Seht mich an! Ich werde euch zu Helden formen, und aus diesem Planeten machen wir das Paradies.«

Die Wesen wurden neugierig. Manche drängten sich nach vorne, um Fragen zu stellen. »Wie beginnen wir deine Vorschläge umzusetzen?«, rief einer. »Weshalb brauchen wir eine Hür… ach ja, eine Hierarchie?«, rief ein anderer. »Was bedeutet Diktatur?«, erkundigte sich ein Untersetzter, von dem später noch zu berichten sein wird.

Ich begriff meine Möglichkeiten. Nur warmes Eisen lässt sich verbiegen. Solange es leuchtet, sollte man draufhauen. Und ich haute drauf! Noch am selben Abend ernannte ich mich zu ihrem König. Ich lehrte sie Beifall, und fortan mussten sie applaudieren, wann immer sie mich sahen – freilich erst nach der Verbeugung. Meine erste Amtshandlung war die Taufe meines Großreichs; ich nannte es spaßhalber: EGOISTIEN

Die alten Tafeln riss ich nieder. Nichts war mehr gratis, alles bekam seinen Preis, und den bezahlten die Egoister mit ihrer neuen Währung. Aus Steinen ließ ich sie Münzen schleifen, in die sie Werte einritzten. Bereits am Tag der Einführung sah ich den Untersetzten, wie er eine Münze ins Sonnenlicht hielt. Als ein anderer vorbeikam, versteckte er das Geldstück in der Faust und kicherte. Nachdem ich die Steuer einführte, erließ ich Gesetze und Verordnungen, die ich mit strenger Stimme vortrug. Als Staatsform wählte ich nicht die Demokratie und auch keine Oligarchie, sondern die Diktatur. »Der Staat bin ich«, lautete mein Slogan. Wir rodeten Wälder, wir schlachteten Tiere und wir veranstalteten Wettkämpfe. Wenn Fragen über die neuen Sitten auftauchten, beriet ich mein Volk, bis ich diese lästigen Aufgaben an meine Berater übertrug.

Das Uhrwerk lief, die Zeiger tickten. Meine Egoister erwiesen sich als fleißig und arbeitswillig. Für den Profit schunden und quälten sie sich sieben Tage die Woche. Aufmüpfigkeit gab es nicht. Ich war Herr über mein eigenes Reich, aber das wurde mir bald zu klein, und so ließ ich sie Messer und Beile schnitzen. Ich erklärte ihnen den Krieg und wir marschierten los. Im Nu eroberten wir so viele Dörfer und Gemeinden, Cäsars Rom wäre gegen mein egoistisches Großreich ein Kaff gewesen. Und all das ohne Widerstand.

Denkmäler, die man nach meinem Abbild meißelte, prunkten auf den Marktplätzen. Portraits, die mich mit Krone am Thron abbildeten, hingen wie Kruzifixe in den Häusern. Nicht mal gehen musste ich noch, denn meine Lakaien trugen mich auf der Sänfte von jedem A zu jedem B. Ich wurde gewaschen, mir wurden die Zehen gefeilt, sogar einen Ab- und Auswischer beschäftigte ich. Nebenbei besuchten mich die schönsten Damen. Was für Körper! Und erst die kleinen Experimente, die ich mit ihnen anstellte. Eine Arbeiterhorde errichtete, gemäß meiner Vorstellungen, einen Palast, für den auf der Erde kein Platz wäre. Fünfzig Schlafgemächer und hundert Badezimmer waren davon nur ein kleiner Teil. Überdies wurden Decken, Wände und Gegenstände aller Art mit Gold und Diamanten verziert. Auf diesem Planeten glänzten die Edelmetalle in Hülle und Fülle, bloß war ich der erste, der sie auch beachtete.

Und dennoch, trotz Aufschwung und Expansion, der Reichtum veränderte die Egoister. Früher gleich in Wille und Charakter, unterschieden sie sich nun voneinander. Bei der Arbeit rackerten manche ohne Mühe fünfzehn Stunden am Stück, ohne zu gähnen; andere sanken schon nach vier Stunden in den Matsch, und hätten sie den Holzstapel nur noch zwei Meter weiter schleppen müssen, sie wären gestorben vor Erschöpfung. Einer meiner Berater bemerkte, dass es sich bei diesen Schwächlingen um Leute mit kurzen Ohren handelte. Ich überlegte, wie ich mit ihnen verfahren wollte. ›Diese Kurzohren‹, dachte ich, ›die könnten mit ihrer Schwäche den Fortschritt bremsen, wenn nicht sogar aufhalten.‹ Folglich erließ ich ein neues Gesetz, dass die Ausrottung sämtlicher Kurzohren anordnete. Keine Stunde länger durften sie Egoistien mit ihrer Unterdurchschnittlichkeit gefährden. Meiner Armee erteilte ich den Auftrag, die Dörfer und Schlupfwinkel mit Maßbändern zu durchkämmen. Alle Ohren wurden abgemessen. Waren sie länger als 5 Zentimeter, durfte man mir weiterhin dienen, waren die Ohren jedoch kürzer, dann wurde das Kurzohr am Scheiterhaufen verbrannt. Die Egoister liebten das Leben, aber den Tod, den mochten sie weniger. Bald flackerten erste Zweifel an meinen Methoden auf. Ein paar Handlanger widersetzten sich. Doch ich statuierte ein Exempel, indem ich ein Dutzend von ihnen öffentlich folterte. Sie bekamen Angst, befolgten meine Befehle und die Durchschnittslänge der Ohren stieg.

Die Wirtschaft florierte, aber die übrigen langohrigen Egoister entdeckten gleichzeitig den Egoismus. Aus ihnen, diesen Wahrzeichen der Tugend, diesen Sanften und Vernünftigen, quollen andere, irdische Charaktertypen. Das waren Neider, Besserwisser, Ehrgeizlinge, Schurken, Wüstlinge, Zuhälter, Fanatiker, Mörder, Betrüger, Pflichtlächler, Windhändler und abertausende Floskelspucker. Klassen entstanden. Unter mir bildete sich eine schlanke Oberschicht, die eine breitere Mittelschicht unterdrückte. Diese erniedrigte eine fette Unterschicht, die die Sklaverei erfand. Auf diese käuflichen Zwangsarbeiter wurde die Drecksarbeit abgewälzt. Sänften tragen, Steine schürfen, Kot einsammeln, damit beschäftigten sich Sklaven in einem egoistischen Haushalt. Manchmal, wenn sie schlimm waren, wurden sie geprügelt, gefoltert oder am Feuerhäufchen durchgeschmort.

Obwohl mein System gewiss Schwächen aufwies, funktionierte es lange Zeit, zumindest für meine Wenigkeit, den Herrscher über alles. Während sich mein Volk den Buckel zerkratzte und durch steigende Abgaben an mich verarmte, sonnte ich mich auf meinen Terrassen, soff und sumpfte und vertrieb mir den Rest des Tages mit meinen Haremsdamen. Doch dann kam die Revolution, natürlich nicht mit Pauken und Trompeten, sondern auf Taubenfüßen.

Wie geschah das? Nun, unter den zahlreichen Honigschmierern und Berufsschmarotzern an meinem Hof war einer der talentierteste. Ich erwähnte ihn schon vorhin. Man nannte ihn Furchius und er war hässlich wie ein Nacktmull. Dafür ein begnadeter Propaganda-Minister und Massenmörder. Niemals und nirgendwo, nicht in diesem oder in einem anderen Universum, gab es einen Speichellecker wie Furchius, der sich darauf verstand, die Obrigkeit mit Geschwafel, Gerüchten und Possen zu belustigen, während er hinterrücks dunkelste Pläne schmiedete, üble Nachrede betrieb und sich mit den Errungenschaften von anderen schmückte. Übrigens war er sehr klein und hatte verformte X-Beine.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nichts von seinem Dünkel. Machtansprüche werden meist nicht ehrlich offenbart. So auch bei Furchius; jeden Tag erschien er pünktlich in meinem Palast und begab sich in jenes meiner tausendundein Zimmer, in dem ich mich gerade verwöhnen ließ. Unter einem Hagel glitschigster Komplimente berichtete er mir von den jüngsten Erfindungen und Eroberungen, vom Wachstum der Wirtschaft und den Exekutionen der Rebellen, die immer häufiger auftauchten.

Um diese Kleinigkeiten scherte ich mich jedoch nicht. Ein großer Fehler, wie sich zeigte. Schließlich, da ich schon nicht mehr fauler und fetter werden konnte, ernannte ich Furchius zu meinem Vizeheerführer und Vizekanzler. Das hätte ich nicht tun dürfen. Zwar genoss Furchius seine Stellung, aber wie es bei ruhmsüchtigen Zwergen die Mode ist, wollte er noch mehr.

Die Dominanz der Oberschicht machte aus dem restlichen Volk ein Armenhaus. Man stocherte in Mistkübeln und bettelte um Essensreste, sogar Fälle von Kannibalismus drangen zu mir. Mittelschichtler betrogen Unterschichtler, Unterschichtler betrogen Unterschichtler, Sklaven rebellierten und ermordeten Unter-, Mittel- und Oberschichtler, sowie sich selbst. Häuser brannten. Einbrüche und Entführungen waren Alltag und auf den Friedhöfen schaufelte man Massengräber. Ich indessen wachte nachmittags auf und verschlang Früchte und Frauen. Und wie schmeckte mir dazu erst der süße Wein aus dem Schlossgarten!

Mein Palast glänzte auf einer Anhöhe, abgeschottet vom Elend, weit weg von Seuchen und Tränen. Dieser Luxus endete an einem sonnigen Nachmittag. Ich lag in meinem drittliebsten Schlafgemach und ferkelte mit meiner zweitliebsten Mätresse am Teppich, als mein Zehenfeiler eintrat und Furchius ankündigte, der draußen wartete. Ich ließ ihn zu mir vor. Die Mätresse lief hinaus. Furchius sah ihr nach, machte einen Knicks, und dann meldete er mir mit seiner weibisch schrillen Stimme, dass sich das Volk anschickte, den Palast zu stürmen.

»Und wozu?«, sagte ich empört, »Was wollen diese Grobiane?«

»Hochverehrte, gottesgleiche Majestät«, entgegnete Furchius, »Wie man hört, dünkt es das Volk aus unerfindlichen Gründen, Seine Egoistische Exzellenz zu stürzen.«

 

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MACHT – Teil 1

I.

Es gibt Gedanken für den Tag und Gedanken für die Nacht. Solange der Himmel noch eine Farbe hat, denken die Menschen an Dinge, die sie voranbringen, die ihnen nutzen. An Geld. An E-Mails. An den nächsten Termin und an die Gurken, die sie nicht auf die Einkaufsliste geschrieben haben. Erst die Dunkelheit verzaubert unsere Welt. Der Kürbis wird zum Ball. Der Ball wird zum Gesicht. Gesichter werden Fratzen. Unsere Gedanken verwandeln sich in Träume. Wünsche und Fantasien scheuen das Licht, bloß meine, die tun das nicht. Ich gehöre zu denen, die Tag und Nacht wie in der Nacht denken. Das ist eine Schwäche. Oft irre ich durch die Gegend und starre ins Nichts, konzentriere mich auf Menschen, die nicht da sind, die nicht mehr leben, oder auf Gestalten, die niemals gelebt haben. So gerate ich in schmerzhafte Situationen. Im Sommer wurde ich von einem Auto angefahren, im Supermarkt rempelte ich ein Regal und im Schwimmbad ein kleines Mädchen. Neulich an der Bushaltestelle, da rannte ich sogar mit der Stirn gegen einen Masten. Die Fahrgäste klebten an den Scheiben und lachten mich aus.

Erst letzte Woche trottete ich wieder in Gedanken die Gasse vor meinem Haus hinab. Am Kopfsteinpflaster klebte eine Zeitung, auf der ein Mann im Krieg eine Schubkarre lenkte. Zwei tote Kinder lagen darin. Ihre Gesichter sah man nicht, ihre schwarzen Beinchen ragten aber steil hinaus. Ich erschrak bei diesem Anblick. Dann begann die Grübelei. Ich weiß noch, wie ich mich fragte, weshalb die Menschheit Kriege führt, weshalb sie Ruhe und Eintracht hasst, und weshalb sie aus viel immer vielmehr machen will. Als Antwort erhielt ich nur weitere Fragen, und weil ich ohne Lösungen leide – litt ich. Zur Ablenkung begann ich ein Spiel mit mir selbst. Ich zählte die Pflastersteine. Manche waren schön, manche zerfurcht, einige überragten die anderen, einige hatten sich gelockert und wieder andere fehlten oder lagen, halb von der Erde verschluckt, neben dem Weg. Die Nummer 91 zählte ich bereits, als ich den linken Fuß vor den rechten setzte, aber keinerlei Widerstand unter mir spürte. Wo war der Boden hin? Ich hatte das Gefühl, als stiege ich über eine Klippe. Um mich vor dem Sturz zu bewahren, hätte ich einen Ast oder eine andere Vorrichtung zum Festhalten benötigt. So aber fiel ich in eine schreckliche Ungewissheit.

Wenn man einen Aufprall mit Verletzungen erwartet, packt einen der Instinkt. Man schützt sich, indem man die Hände vor dem Gesicht verschränkt, sich krümmt und jede Faser Muskel anspannt. Auch ich verhielt mich in dieser Art, nur schlug ich nicht auf und prallte nirgendwo dagegen. Immer tiefer und tiefer fiel ich, indessen der Schwindel das Blut aus meinem Kopf saugte. Jede Sekunde erwartete ich meinen Tod, bald erhoffte ich ihn sogar. Obwohl ich rund um mich nichts erkannte, kniff ich die Augen zusammen, bis sie schmerzten. Plötzlich sah ich etwas – in mir. Eine Erinnerung. Noch eine. Die nächste. Mit Kurzzeitgedächtnis hatte das aber nichts zu tun, vielmehr waren es Erinnerungen, die ich so lange verdrängt hatte, dass sie mich mehr schockierten als der Sturz in diesen Brunnen ohne Boden. Nur Sünden sah ich, Sünden, die ich begangen hatte. Ich sah mich in der Grundschule, wie ich stahl und Kinder anspuckte, sah mich während meiner Jugend, wie ich meine erste Freundin an den Schultern festhielt und schüttelte, wie ich Drogen nahm und Raufereien anzettelte, sah mich beim Lügen und Betrügen, beim Neiden und Beleidigen und bei schlimmeren Abscheulichkeiten. Ich dachte, ich sei wertlos und eklig – ein Untermensch.

Ich hatte mich schon aufgegeben, da geschah etwas Merkwürdiges. In der Ferne erleuchtete inmitten der Schwärze ein klitzekleiner Punkt, ähnlich einem Glühwürmchen. Zunächst schien er weiß, bald strahlte er gelb. Er gab mir einen Kontrast; dank ihm begriff ich, mit welch sagenhafter Geschwindigkeit ich fiel. Aber fiel ich oder flog ich? Raste ich auf den Punkt zu, oder er auf mich? Der Punkt erschien mir als Kreis, bald als Kugel, und bald änderte diese Kugel noch einmal ihre Farbe. Sie wurde blau und grün und braun. Da erahnte ich, worum es sich bei diesem Objekt handelte.

War ich im Weltall? Und wenn ja, wie konnte das sein? Obwohl ich nicht steuern konnte, zog der blaue Ball mich an wie ein Magnet. Von Vakuum oder Schwerelosigkeit spürte ich nichts, vielmehr fühlte ich mich von einer Absicht oder einem fremdartigen Willen gelenkt. Ich begaffte die Kontinente und wunderte mich über ihre Form. Der eine sah aus wie Australien, die beiden anderen ähnelten sich, bloß schien der eine etwas dicker, der andere etwas länger. Ja, es bestand kein Zweifel mehr. Vor mir lag unsere Erde.

›Wo will ich am liebsten aufschlagen?‹, dachte ich, indem mein Blick zwischen der Antarktis und dem Kap der guten Hoffnung pendelte. ›Bloß nicht ins Meer! Nicht ins eiskalte Wasser! Untergehen und von Riesenviechern zersetzt werden, nein, das verdiene ich nicht! Bitte Gott, lass mich wenigstens am Land zerschellen!‹

Ohne Hitzeschild durchbrach ich die Atmosphäre meines Heimatplaneten. Dass ich weder Wärme noch Kälte empfand, wunderte mich zwar einen Augenblick, gleichsam quälten mich aber wichtigere Fragen. ›Wie lange habe ich noch? … Wie lange dauert ein Flugzeugabsturz? … Mal drei ergibt das … ‹ Ich wollte meine Daseinsreste nicht für solche Mutmaßungen verschwenden. Da mir nichts Besseres einfiel, zwang ich mich an alle Menschen zu denken, die ich lieb hatte, und die auch mich lieb hatten. Hatten die mich lieb?

Indessen tauchte ich in die Wolkenwatte. Regen, der noch nicht gefallen war, rann mir über Wangen und Arme, der Wind pfiff und ich sah Land unter mir. Jetzt wünschte ich mir, doch aufs Wasser aufzuschlagen. Dann wünschte ich mir, dass mich die Ohnmacht aus dem Leben riss, bevor es der Boden tat. Aber ich behielt mein Bewusstsein; mehr denn je war ich bei Sinnen und dachte immerzu an mein lächerliches Leben, und wie ich es nicht genutzt, sondern für falsche Ziele und Menschen vergeudet hatte.

Aus der Landkarte erhoben sich Wälder, Seen und Ebenen. ›Wo ist Gott?‹, dachte ich. ›Wird mir Petrus gleich öffnen, werde ich beim jüngsten Gericht beichten? Was wissen die über mich? Wissen die von meinen … Nein, das dürfen die nicht wissen! … Aber was, wenn nichts mehr ist? Nie wieder etwas? Nie wieder atmen, nie wieder sehen und riechen, nie wieder in meinem Bett erwachen, nie wieder eine Frau küssen!‹

Während ich mich mit diesen Dingen beschäftigte, verlangsamte sich wie durch Zauberhand mein Tempo. Boeing – Rennauto – Moped – spanische Wegschnecke. Zeitlupe. Ich schwebte wie ein stolzer Vogel oder ein Flaschengeist.

Keine fünfzig Meter trennten mich noch von der Oberfläche, da erkannte ich unter mir einen Baum. Mit seinem schiefen Stamm glich er der Birke aus meinem Garten. Und neben ihm verlief ein Pfad, der meiner Gasse ähnelte, in der ich doch vorhin in das Loch gefallen war. War ich zuhause? Ich verstand nichts mehr. Als meine Beine am Pfad aufsetzten, wackelten sie und kippten um. Da lag ich und keuchte und winselte.

Ich war am Leben! Ich jubelte! Lebte ich? Nach allen Seiten wandte ich den Kopf. Überall hielt ich Ausschau nach Autos und Beleuchtungen und Handymasten, natürlich nach Erdlingen. Doch rings um mich standen bloß weitere Bäume. Aus dem Boden ragten blühende Sträucher und Blumen, deren Farben meine Augen stachen wie das helle Sonnenlicht. All diese Pflanzen wirkten, als hätte sie noch nie jemand berührt. Ich stützte mich am Stamm der Birke ab und erhob mich. Zwei Blicke nach links, einer nach rechts, drei nach hinten, so torkelte ich den Pfad bergauf und suchte mein Haus. Stattdessen erreichte ich aber eine Wiese mit lila Blumen und grasenden Rehen und… – ich erschrak.

Menschen! Viele Menschen waren auf dieser Wiese. Sie saßen im Kreis. Gelächter. Umarmungen. Die Kinder tanzten Hand in Hand. Alle strahlten auf eine Weise, die ich bis dato noch nie gesehen hatte. Keiner schwieg. Keiner saß abseits. Alle trugen weite, schneeweiße Gewänder und sangen ein fröhliches Lied. Wie ein Chor aus Göttern klangen sie. Ich traute meinen Eindrücken nicht, und so drehte ich mich weg, schlug mir auf den Kopf, tat die Hände vor die Augen. Gerade als ich mich hinter einem Strauch verstecken wollte, entdeckte man mich. Nicht einer, sondern alle kamen. Einer von ihnen war aber doch der schnellste. Dieser Mann, sein Haar war dicht und schwarz, öffnete die Arme und ging direkt auf mich zu. Ich wollte fliehen, meine Beine blieben aber starr.

»Wir grüßen dich«, sagte dieses Wesen in meiner Sprache.

Er umarmte mich. Ich zitterte.

»Ja… Guten Tag«, sagte ich und winkte den anderen. »Ich … entschuldigen Sie … wie komme ich denn in die nächste Stadt?«

»Wie bitte?«, sagte er.

»Wo bin ich?«

»Du bist bei uns.«

»Und wer seid Ihr?«

»Wir sind wir.«

Ende des Gesprächs. Freundlichkeit ist nicht gleich Freundschaft, Umarmungen sind nicht gleich Liebe. Ich fürchtete mich vor seiner Stimme, genauer gesagt vor diesem herzlichen, fast heiligen Unterton. Ich haderte und stand stocksteif vor ihm – vor ihnen allen. Als er mir aber sagte, seine Familie sei überglücklich über meine Ankunft, da folgte ich ihm, und die anderen folgten mir.

Die Unbekannten empfingen mich wie einen Messias. Jeder umarmte und küsste und bestaunte mich, aber in diesem Staunen lagen weder Angst noch Misstrauen. Bald fiel mir auf, dass mir keiner eine Frage stellte. Also war ich es, der sich bei dieser Kommune erkundigte, wo ich hier war. Dreimal probierte ich das, jedes Mal erhielt ich aber dieselbe Antwort: »Bei uns.«

Sie führten mich in ihr Dorf. Die Dächer bestanden aus Stroh, die Wände aus einer Art Lehm, und auch sonst verwendeten sie nur natürliche Materialien. Nirgendwo sah ich Beton oder Metall. Als wir uns um einen Stein auf den Boden setzten, fragte ich meine Sitznachbarin: »Entschuldigen Sie, heißt dieser Planet: die Erde?« Sie beriet sich mit den anderen, und im Chor antworteten sie: »Erde ist uns nicht bekannt.«

Jetzt verstand ich, dass ich mich in einer Parallelwelt befinden musste. Die Bewohner dieses Planeten, die uns Menschen aufs Haar glichen, führten ein Leben ohne Komplikationen. Sie sprachen, lachten und kümmerten sich um ihre Kinder, aber Begriffe wie Geld, Land, Grenze, Verbrechen, Hass, Zorn und Wirtschaft kannten sie nicht. Sie aßen nur Pflanzen und Beeren, tranken nichts als Wasser aus dem See nebenan, sie stritten nicht, sie schlugen sich nicht, beneideten und beraubten einander niemals, führten keine Kriege, besaßen kein Geld und hatten keine Wünsche, nicht mal Wettbewerbe hatten die. Nacht für Nacht schliefen sie mit anderen Leuten in anderen Häusern, als bestimmte der Zufall, wer heute hier und wer morgen dort übernachtete. Die Natur behandelten sie mit Liebe und Sanftmut, und deshalb erschien sie mir bald als der schönere Zwilling unserer irdischen. Zudem teilten sie jeden Gegenstand. Alles gehörte jedem, aber nichts gehörte irgendwem. Kurz gesagt, es handelte sich um Wesen, die keine Sünden begangen, weil sie von der Sünde keinen Schimmer hatten. Anfangs war das schwer zu verstehen.

Tag für Tag erforschte ich meine neuen Freunde in allen Einzelheiten; so lernte ich ihre Gepflogenheiten und sang bald ihre Lieder. Ich mochte alle und wurde wie sie. Ich umarmte Frauen wie Männer, brachte ihre Kinder zu Bett und half ihnen beim Kochen und Feuermachen. Und alle, ohne Ausnahme, liebten auch mich wie einen Bruder.

Nach ein paar Wochen vermisste ich mein Auto und meinen Computer nicht mehr; meine einstigen Sorgen und Probleme verblassten in diesem Beisammensein, in dieser Harmonie ohne Ende. Ich verdrängte den Spott, die Bosheit und den Ehrgeiz; ich strebte nach nichts uns hasste niemanden, ich war zum ersten Mal in meinem Leben glücklich, ohne mich zu belügen. Eine Weile lebte ich so am Gipfel menschlicher Zufriedenheit. Aber schließlich wurde mir langweilig. Und dann habe ich dieses liebenswerte Volk von Grund auf verdorben.

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