Fotomord: Roman

Seitenzahl der Print-Ausgabe: 646 Seiten
Format: Kindle Edition

Erscheinungsjahr: 2018
Verfügbar bei: AMAZON

JETZT LESEN:

Leseprobe

1.

Wer sich überlegen fühlen will, sollte noch einmal überlegen.

Wien im August. Im Dachgeschoss eines dreistöckigen Hauses befand sich eine Wohnung, die mehr einem Käfig als der Unterkunft eines Menschen ähnelte. Es fehlten Handy, Computer und Fernseher, es fehlten ein Sofa, der Kühlschrank und sogar das Bett. Die Toilette wurde weder von einer Wand noch von einem Vorhang geschützt, Essensreste klebten am Boden, nirgendwo hing ein Spiegel, nirgendwo das kleinste Bild.

Der Bewohner lag am Parkett, das Gesicht unter einem aufgeschlagenen Buch. Ohne Matratze und ohne Kissen wälzte er sich umher, wobei er den Umschlag mit beiden Händen gegen die Schläfen presste, wie wenn zwischen ihnen eine Spannung herrschte, die keine Pausen kannte. Seit er seine Arbeit aufgegeben hatte, lief sein Leben ohne Rhythmus. Auf Phasen, in denen er zwei Tage und Nächte durchgehend las und dachte, folgten ganze Wochen, in denen er jeden Sonnenstrahl verschlief. Von der Außenwelt war er bereits so weit abgespalten, es hätten sich drei, bestenfalls vier Personen gefunden, die noch von seiner Existenz wussten. Anderthalb Tage waren seit seiner letzten Mahlzeit verstrichen, fast ein Monat seit einem ordentlichen Gespräch. Vielleicht hätte ein Ratschlag oder die richtige Frage eines lieben Menschen genügt, um ihm den Tritt ins Glück zu versetzen – ein solcher Mensch war aber nicht bei ihm erschienen.

Das Buch rutschte ihm über die Wange, die Kante des Umschlags stach in seinen Hals. Er schreckte auf und starrte zur Decke. Aus Gesichtern lässt sich vieles lesen, meistens verliest man sich aber dabei, weshalb wir uns darauf beschränken, dass der junge Mann ein seltenes Gesicht hatte. Ein Gesicht, in dem das Harte mit dem Weichen rang, ohne dass sich eines der beiden Lager durchsetzen konnte. Er war etwas über Mittelgröße und trug schulterlanges Haar, nicht aber mit modischer Absicht, sondern schlichtweg aus Unlust, seine Distanz zur Welt für einen bloßen Friseurbesuch aufzuheben. Noch genügte das Gummiband, mit dem er die Mähne am Hinterkopf zu einem Knauf bändigte.

Er robbte vorwärts und schaufelte die Brotkrusten mit den Handflächen zusammen. Gemessen an der Umgebung und seinem Zustand, wäre es nicht merkwürdig erschienen, wenn er gefressen hätte wie ein Vieh; er aber pflegte, im Gegenteil, eine sehr feine Art zu speisen, wie man sie oft bei Leuten aus gutem Elternhaus antrifft. Trotz seines Hungers aß er in kleinen Bissen, kaute, ohne zu schmatzen, und schluckte, ohne zu schlingen.

Dann erhob er sich, kramte in der Hosentasche und zog einen zerknitterten Zettel heraus. Das war der Lieferschein eines Zustelldienstes, und darauf standen sein Name, Kilian Trommler, die Adresse einer Tankstelle und in roter Schrift: Ihre Sendung ist da!

Ob sie ahnt, dass du die Pakete mit Absicht nicht annimmst?, dachte Trommler. Wobei … es ist noch peinlicher: Du bestellst ja nur, damit du eine Ausrede hast, um sie zu sehen. Gesteh endlich, statt dich jeden Tag anders zu belügen. Du warst einer, der eine Idee hatte. Kein Hirngespinst wie die meisten, sondern eine wirkliche, eine große Idee! Und jetzt schau dich an. Gesteh, was aus dir geworden ist … eine Wanze bist du. Ein feiger, kleiner Wurm!

Er ging zum einzigen Schrank, griff hinter das Gesamtwerk von Platon und nahm sich Geld aus einer Schatulle. Dreimal pochte er sich mit der Faust gegen die Stirn, als quälte ihn ein Gefühl, das er mit Gedanken nicht mehr aus sich verscheuchen konnte. Er fasste nach der Schnalle und verließ die Wohnung.

Das Treppenhaus war grau und stank nach Katzenfutter. Die Treppen selbst waren rillig und rutschig, da kein Mensch den Putz wegfegte, der von den trockenen Mauern herab träufelte. Trotzdem nahm er drei pro Schritt und eilte vorbei an dem Gang, der zu der Wohnung führte, die seit dem Tod der alten Frau leer stand. Im ersten Stock hielt er jedoch an und spähte zur Wohnungstür mit der Luke. Er lauschte, nachdem aber eine Minute kein Ton bis zu ihm gedrungen war, huschte er vorbei und trat ins Freie.

Der Regen war auch heute ausgeblieben; weiterhin ohrfeigte die Hitze jeden, der sich über seine Schwelle ins Getümmel wagte. Das Haus stand an einer langen Straße, die von Autofahrern und Fußgängern wegen der vielen Ampeln und Baustellen gehasst wurde. Es war Nachmittag, und Trommler sah noch mehr Menschen, als er befürchtet hatte. Sie kehrten aus den Freibädern oder von der Arbeit heim und schwitzten. Von rechts näherte sich eine Familie, die Eltern telefonierend, die beiden Töchter von der Sonne gerötet und müde. Er sah ihnen nach, bis sie den nächsten Zebrastreifen überquert hatten und in einer Seitengasse verschwanden. Gehemmt aber hastig ging er los, stolz die Aura, bedrückt der Schritt. Bevor er aber das Nachbarhaus erreichte, hörte er, wie hinter ihm ein Fenster gegen die Mauer schlug.

»Halt!«, rief eine Männerstimme, die sich bereits nach diesem ersten Wort räusperte. »Wieso schleichst du wie ein Asylant an meiner Wohnung vorbei? Rennst du jetzt auch noch vor mir davon, du Nurmi?«

Dieser Tonfall war ihm bekannt. Als er den Kopf halb nach hinten drehte, sah er den Mann, der im ersten Stock wohnte. Unfrisiert und ungeniert beugte er sich aus dem Fenster und kratzte über den Verband, der um seinen Ellenbogen gewickelt war. »Zehn vor fünf stehst du vor der Garage«, rief er. »Und nimm mir ein Wurstbrot mit! … Keine Semmel! Keine Kantwurst! Ein Brot mit Extrawurst! Aber ohne Gurkerl! … Und Kaugummis! Die mit der Welle auf der Verpackung! … Mit Minzgeschmack! … Aber nicht um fünf, zehn vor fünf! Kapiert?«

Trommler nickte kurz und ging weiter.

Bis zur Tankstelle waren es knapp zwei Kilometer, vorbei am Grölen und Kichern der Jugendlichen an der Haltestelle, vorbei am Spielplatz, auf dem wieder nur die Raben schaukelten, schließlich auf die andere Straßenseite, um dem giftgelben neuen Haus auszuweichen, als würde er davor eine unangenehme Begegnung fürchten. Auf halbem Weg sah er kurz vom Bordstein auf, um den Blick aber prompt, wie aus Ekel, erneut zu senken. Mehr noch als die Menschen und ihre lauten Stimmen störten ihn die unzähligen Reklamen, die ihn anstarrten und verfolgten.

Bilder, Bilder, Bilder!, dachte er. Warum sollst du dir Schuhe kaufen, die potthässlich sind, aber bis übermorgen verbilligt? Deine sind noch ganz und du stehst fest in ihnen … Warum an diesem Gewinnspiel teilnehmen, wenn du für den Sieg mit einer Achtzig-Stunden-Woche und keiner Zeit zum Lesen bestraft wirst? … Und eure Uhr? In Edelstahl verpackt, mit Titan verstärkt, ein wert- und sinnvolles Kunstwerk? Ticktack, Ticktack, Taktik! – Was viel Wert hat, hat wenig Sinn. Was viel Sinn hat, hat wenig Wert.

Eine Weile ignorierte er sämtliche Reklamen, da er aber bloß noch auf den Boden starrte, übersah er den Straßenarbeiter, der vor ihm auf einer Leiter stand. Gerade noch konnte sein Kollege den Zusammenstoß vereiteln. Der Arbeiter sagte etwas und fuchtelte mit seinem Pinsel vor dem Gesicht herum, worauf sich Trommler mit einem Wink bei ihm entschuldigte. Dabei streifte sein Blick aber jenes Plakat, das der Arbeiter an die Zeitungssäule strich.

Es war Werbung für die Bezirkswahlen, die in wenigen Wochen stattfanden. Abgebildet war ein Mann mit kurzem Körper und einem unangenehm-glänzenden Gesicht …