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Coroniken V – Meine Meinung

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Meinungen ploppen gerade wie Pilze aus dem Boden. Überall weiß jemand, was wichtig und richtig ist. Dennoch scheint es immer ein bisschen anders zu kommen. Höchste Zeit also, um über das Wesen der Meinung nachzudenken.

Wir leben in einer Demokratie, heißt es. Natürlich soll jeder sagen, was er glaubt. Man stelle sich bitte nur einmal vor, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr … Wo würden wir denn da hinkommen? – Hierzulande herrscht Common Sense darüber, die eigenen Ansichten auszudrücken. Es ist ein Grundrecht, für das wir notfalls auf die Straße gehen und auch kämpfen würden. Obwohl wir gegenüber Autoritäten manchmal vorsichtig damit sind, vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns verkneifen können, was wir denken und fühlen. Ob verlangt oder unaufgefordert, wir sagen unsere Meinung. Dafür wünschen wir uns Aufmerksamkeit und Zustimmung.

In der Corona-Pandemie vermehren sich die verschiedenen Ansichten exponentiell wie die Viren. Finanzexperten meinen zeitgleich, dass der Crash auf jeden Fall kommt und dass sich der Markt auf jeden Fall erholt. Hobbyteamchefs meinen, dass die Saison fortgesetzt oder sofort beendet werden muss. Arbeitgeber meinen, dass die Geschäfte morgen wieder öffnen sollen, Schuldner, dass ihre Kredite jetzt ausgesetzt werden müssen. Dann gibt es noch Politiker, Ärzte, Privatpersonen: allesamt meinen sie, dass der Virus höchstgefährlich, gefährlich, nicht gefährlicher als die Grippe und völlig ungefährlich ist. Die meisten von ihnen tragen ihren Standpunkt als einzige Wahrheit vor, wie wenn sie uns nichts anderes enthüllen, als dass der Herbst auf den Sommer folgt. Aber nicht nur diese Leute, auch wir vertrauen auf unsere Meinung. Wer ihr zu heftig widerspricht, der ist unwissend, feindlich oder von den Fake News.

Was aber ist eigentlich eine Meinung? Wie entsteht sie? Und wie sollen wir die Qualität der unzähligen Formen und Arten auseinanderhalten? – Wenn wir das Wort „Meinung“ betrachten, fällt zunächst auf, dass es von der Silbe „Mein“ dominiert wird. Es handelt sich folglich um etwas höchst Subjektives. Hätte die Meinung allgemeine Gültigkeit, wäre sie keine Meinung mehr, sondern eine „Wirung“ oder „Unsung“. Bekanntlich kennt unsere Sprache beide nicht.

Da eine Meinung also etwas Persönliches wiedergibt, wird sie auch von unserer Persönlichkeit gefärbt. Vor allem von unseren eigenen Erfahrungen, Erlebnissen, Einflüssen, von Vorbildern und dem Gesundheitszustand, genauso von unserer Zeit und dem Umfeld. Keine Meinung ist damit unabhängig. Jede Meinung zeigt jedoch, in welcher Weise unsere Werte in uns angeordnet sind. Welche innerliche Hierarchie in uns besteht. Was wir meinen, sagt letztlich am meisten über uns selbst aus.

Es wäre nun aber abartig und sogar gefährlich, wenn wir es uns abgewöhnen wollten, Meinungen über die Dinge zu fassen. Ständig verlangt die Natur unsere Einschätzung der Lage. Dadurch schützen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Liebsten vor Gefahren.

Aber dennoch! Dennoch gibt es Meinungen, denen wir vertrauen, während wir andere blitzschnell als überzogen, als unrichtig, schlicht als falsch beurteilen. Beurteilen ist auch das Stichwort, denn letztlich ist jede Meinung ein Urteil über einen Sachverhalt, und auch wenn wir viele dieser Urteile als Vorurteile abkanzeln, akzeptieren wir andere ohne Wenn und Aber. Wo liegt nun aber der Unterschied?

Zum einen kennen wir Meinungen, die auf Argumenten beruhen. Sie klingen schlüssig und beziehen sich auf allgemeine Erfahrungen, auf das, was viele erleben oder erlebt haben. Solche Meinungen wahren das Gleichgewicht. Sie zwingen uns nichts auf und lassen uns Raum. Wenn wir sie hören, haben wir das Gefühl, dass wir von ihnen profitieren. Im idealen Fall sind es Meinungen, die selbst für Gegenargumente offen bleiben und vielleicht sogar mit einer Frage ausklingen, um selbst noch etwas zu lernen.

Auf der anderen Seite gibt es aber Meinungen, die stark auf Emotionen beruhen. Sie klingen unschlüssig, beziehen sich auf Behauptungen und Mythen, auf die Art, wie einer selbst die Welt empfindet. Diese Meinungen beginnen schnell zu wackeln. Sie werden uns aufgedrängt und treiben uns in die Enge. Wir haben das deutliche Gefühl, dass wir nicht von ihnen profitieren. Im schlimmsten Fall sind es Meinungen, die sich, wie es auch Sekten tun, vor jedem Zweifel und Weiterdenken verschließen. Sie werden dann nur ausgesprochen, um uns zu überreden oder um Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Um die gesunde von der ungesunden Meinung zu unterscheiden, müssen wir aber vor allem unseren Blick schulen. Denn was wir sehen, darüber denken wir nach, und worüber wir nachdenken, darüber bilden wir Meinungen. Im Buch der fünf Ringe, einem Hauptwerk in der asiatischen Kampfkunst, beschreibt der Samurai Musashi, dass wir zwei völlig verschiedene Augen besitzen. Das eine ist das beobachtende Auge. Es sieht die Welt unaufgeregt und klar, ohne Verzerrung oder Übertreibung. Das beobachtende Auge erkennt die Dinge, so wie sie sind. Das wahrnehmende Auge sieht dagegen mehr, als wirklich vorhanden ist. Stets übertreibt es, stets ist es von Gedanken und Gefühlen abgelenkt und fantasiert etwas hinzu.

Je unruhiger die Zeit, desto eher neigen auch wir dazu, das wahrnehmende Auge zu benutzen, statt nur zu beobachten. Kein Wunder. Ständig werden wir aufgefordert, jemanden zu bewerten, ganz gleich ob durch Likes oder sämtliche Umfragen. Eigentlich ist es ja richtig, sich jede Sache aus drei Perspektiven anzusehen, ehe man sich sein Urteil bildet. Wie sehe ich es? Wie siehst es du? Wie sieht es ein Unbeteiligter? – Leicht gesagt, schwer befolgt.

Im Alltag hindern uns oft die eigenen Ziele und die knappe Zeit daran. Online laufen wir Gefahr, dem Confirmation Bias zu unterliegen. So wird jeder unserer Klicks abgespeichert und verwertet. Algorithmen erkennen unsere Muster und Meinungen. Sie bestimmen, was uns auf den Social-Media-Kanälen angezeigt wird. Dabei füttern sie uns mit dem, was uns am besten schmeckt: nämlich mit Infos, die unsere Sicht der Dinge wieder und wieder bestätigen. So werden unsere Meinungen mit jedem Klick dicker und unbeweglicher, bis uns niemand mehr vom Gegenteil überzeugen kann.

Beobachten wir daher objektiv und offen. Bleiben wir für Standpunkte zugänglich, die unseren eigenen fern erscheinen. Konfrontieren wir uns aktiv mit Artikeln und Videos, die wir ansonsten sofort wegklicken würden. Vergessen wir niemals, dass es allzu oft unsere eigene Meinung ist, die uns den Weg versperrt.

 

Der heutige Buchtipp beschäftigt sich mit den Abgründen der öffentlichen Meinungsmache:

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum

 

Mehr Gedanken zur Coronakrise findest Du hier:

Coroniken IV – Stoisch durch die Krise

Coroniken III – Gegenwart(en)

 

Herzlichst,

Patrick Worsch