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Coroniken I

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 19.3.2020

Alles ändert sich ständig. Schon vor 2400 Jahren wusste Platon, dass jeder Zustand aus seinem Gegenteil entsteht. Das Ferne braucht das Nahe, das Große folgt aus dem Kleinen und das Junge aus dem Alten. Nach keinem anderen Gesetz verläuft diese neue Phase in unserem Leben.

Aus dem Trubel ist Stille geworden, aus dem Rausgehen der Rückzug. Dieses Gesetz vom Gegenteil wird sich aber besonders bewahrheiten, sobald die Beschränkungen nicht mehr gelten. Wie frei und unbegrenzt werden wir uns dann wieder fühlen, gerade weil wir uns jetzt so einengen müssen? Wie sehr werden wir es genießen, nicht auf unser Smartphone zu schauen, sondern in das wunderschöne Gesicht unseres Gesprächspartners? Wie groß wird die Vorfreude auf ein Treffen mit Freunden im Café? Wie ausgelassen werden wir feiern, wie leidenschaftlich werden wir lieben!

Binnen kürzester Zeit wird sich der Stillstand in eine Goldgräberstimmung verwandeln, die jeden noch so gelähmten Lebensbereich wieder aufwecken und mit Elan und neuem Mut befruchten wird. Erinnern wir uns gerade deshalb in den langweiligsten und dunkelsten Momenten daran: je tiefer diese Krise, desto höher gerät auch der Aufstieg danach.

In diesen Tagen verwandelt sich auch unser Verhalten in sein Gegenteil. Ansonsten stets in Eile, sitzen wir auf einmal daheim auf unseren Stühlen und Medizinbällen. Wir gähnen und strecken uns. Draußen hören wir den Wind wehen. Wenn alle um 18 Uhr klatschen und singen, ist das ein Highlight für uns.

Was ist bloß seit letzter Woche aus uns geworden? Noch bis vor wenigen Tagen bestand unser Alltag darin, täglich im Außen etwas zu wollen und selbst Erschöpfung und sämtliche Nerven zu riskieren, um es irgendwie zu kriegen. „Schnellstmöglich, zeitnah, prompt, bitte bei nächster Gelegenheit“, hieß es in unseren Emails. Auf den Straßen hetzten Menschen an uns vorbei, deren Gesichter wie Fratzen angespannt waren. Jedes Augenpaar schien krampfhaft nach etwas zu suchen. Kaum wagte man, länger als zwei Minuten mit jemandem zu sprechen, ohne sich schon unhöflich vorzukommen. Schließlich mussten wir ja beide ganz dringend irgendwo anders hin.

Nun aber? Emails haben Zeit. Auf der Straße halten wir Abstand. Die Menschen gehen langsamer, bedächtiger. Niemand rempelt uns, keine Ellenbogen fahren aus. Fremde winken und nicken einander zu. Plötzlich telefonieren wir mit Freunden. Ungezwungene, intensive Dialoge entwickeln sich wie von selbst, und keiner muss auflegen. Der Virus hat die Menschen nicht nur ängstlich, sondern auch freundlicher gemacht.

Vielmehr erhalten wir nun die Chance, uns besser kennenzulernen.  Es liegt an uns, ob wir diese Phase überhaupt bewerten oder beurteilen wollen. Wenn ja, dann haben wir aber die Wahl: entweder verstehen wir das Geschehen als große Depression oder aber als erholsame Pause, entweder fürchten wir, dass wir nachher nichts mehr haben, oder aber wir achten genau jetzt die Personen und Dinge, die unser Leben so liebenswert und schön machen.

Natürlich ist es eine Zeit der Unsicherheit, in der viele von uns einen Bericht nach dem anderen verschlingen und plötzlich jedes Detail über Cluster, Triagen, Virenstämme und Rezeptoren in der Lunge kennen. Hundertmal pro Tag werden wir vor etwas gewarnt; ähnlich oft fragen wir uns, ob wir die Krankheit ebenfalls bekommen, ob wir sie überleben werden, ob unsere Liebsten sie schon haben, ob unsere Eltern und Großeltern sicher sind, ob wir die Kaffeetasse noch am Henkel anfassen dürfen, ob die Wirtschaft kollabiert und ob der morgige Tag genauso zäh vergehen wird wie heute?

All diese Ängste und Sorgen werden uns in Wahrheit aber nicht aufgezwungen. Niemand anders, nur wir selbst erzeugen sie. Und wenn Viktor Frankl  es schaffte, seinem Leben sogar inmitten des Konzentrationslagers einen Sinn zu geben, dann werden wohl auch wir die Tristesse dieses Frühjahrs überstehen. Wenn Robinson Crusoe 28 Jahre auf einer abgelegenen Insel überlebt, dann werden wohl auch wir unser eigenes Zuhause für zwei oder drei Monate aushalten. Alles ist nur für den Moment, denn alles ändert sich ständig. Wir dürfen auch das Gegenteil von dem fühlen, was wir glauben, fühlen zu müssen.

Bleiben wir also gerade jetzt besonnen und bei uns. Beobachten wir gerade jetzt unser Inneres ganz genau. Wählen wir unsere Emotionen selbst.

Herzlichst,

Patrick Worsch