Über die Meinung

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Meinungen ploppen gerade wie Pilze aus dem Boden. Überall weiß jemand, was wichtig und richtig ist. Dennoch scheint es immer ein bisschen anders zu kommen. Höchste Zeit also, um über das Wesen der Meinung nachzudenken.

Wir leben in einer Demokratie, heißt es. Natürlich soll jeder sagen, was er glaubt. Man stelle sich bitte nur einmal vor, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr … Wo würden wir denn da hinkommen? – Hierzulande herrscht Common Sense darüber, die eigenen Ansichten auszudrücken. Es ist ein Grundrecht, für das wir notfalls auf die Straße gehen und auch kämpfen würden. Obwohl wir gegenüber Autoritäten manchmal vorsichtig damit sind, vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns verkneifen können, was wir denken und fühlen. Ob verlangt oder unaufgefordert, wir sagen unsere Meinung. Dafür wünschen wir uns Aufmerksamkeit und Zustimmung.

In der Corona-Pandemie vermehren sich die verschiedenen Ansichten exponentiell wie die Viren. Finanzexperten meinen zeitgleich, dass der Crash auf jeden Fall kommt und dass sich der Markt auf jeden Fall erholt. Hobbyteamchefs meinen, dass die Saison fortgesetzt oder sofort beendet werden muss. Arbeitgeber meinen, dass die Geschäfte morgen wieder öffnen sollen, Schuldner, dass ihre Kredite jetzt ausgesetzt werden müssen. Dann gibt es noch Politiker, Ärzte, Privatpersonen: allesamt meinen sie, dass der Virus höchstgefährlich, gefährlich, nicht gefährlicher als die Grippe und völlig ungefährlich ist. Die meisten von ihnen tragen ihren Standpunkt als einzige Wahrheit vor, wie wenn sie uns nichts anderes enthüllen, als dass der Herbst auf den Sommer folgt. Aber nicht nur diese Leute, auch wir vertrauen auf unsere Meinung. Wer ihr zu heftig widerspricht, der ist unwissend, feindlich oder von den Fake News.

Was aber ist eigentlich eine Meinung? Wie entsteht sie? Und wie sollen wir die Qualität der unzähligen Formen und Arten auseinanderhalten? – Wenn wir das Wort „Meinung“ betrachten, fällt zunächst auf, dass es von der Silbe „Mein“ dominiert wird. Es handelt sich folglich um etwas höchst Subjektives. Hätte die Meinung allgemeine Gültigkeit, wäre sie keine Meinung mehr, sondern eine „Wirung“ oder „Unsung“. Bekanntlich kennt unsere Sprache beide nicht.

Da eine Meinung also etwas Persönliches wiedergibt, wird sie auch von unserer Persönlichkeit gefärbt. Vor allem von unseren eigenen Erfahrungen, Erlebnissen, Einflüssen, von Vorbildern und dem Gesundheitszustand, genauso von unserer Zeit und dem Umfeld. Keine Meinung ist damit unabhängig. Jede Meinung zeigt jedoch, in welcher Weise unsere Werte in uns angeordnet sind. Welche innerliche Hierarchie in uns besteht. Was wir meinen, sagt letztlich am meisten über uns selbst aus.

Es wäre nun aber abartig und sogar gefährlich, wenn wir es uns abgewöhnen wollten, Meinungen über die Dinge zu fassen. Ständig verlangt die Natur unsere Einschätzung der Lage. Dadurch schützen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Liebsten vor Gefahren.

Aber dennoch! Dennoch gibt es Meinungen, denen wir vertrauen, während wir andere blitzschnell als überzogen, als unrichtig, schlicht als falsch beurteilen. Beurteilen ist auch das Stichwort, denn letztlich ist jede Meinung ein Urteil über einen Sachverhalt, und auch wenn wir viele dieser Urteile als Vorurteile abkanzeln, akzeptieren wir andere ohne Wenn und Aber. Wo liegt nun aber der Unterschied?

Zum einen kennen wir Meinungen, die auf Argumenten beruhen. Sie klingen schlüssig und beziehen sich auf allgemeine Erfahrungen, auf das, was viele erleben oder erlebt haben. Solche Meinungen wahren das Gleichgewicht. Sie zwingen uns nichts auf und lassen uns Raum. Wenn wir sie hören, haben wir das Gefühl, dass wir von ihnen profitieren. Im idealen Fall sind es Meinungen, die selbst für Gegenargumente offen bleiben und vielleicht sogar mit einer Frage ausklingen, um selbst noch etwas zu lernen.

Auf der anderen Seite gibt es aber Meinungen, die stark auf Emotionen beruhen. Sie klingen unschlüssig, beziehen sich auf Behauptungen und Mythen, auf die Art, wie einer selbst die Welt empfindet. Diese Meinungen beginnen schnell zu wackeln. Sie werden uns aufgedrängt und treiben uns in die Enge. Wir haben das deutliche Gefühl, dass wir nicht von ihnen profitieren. Im schlimmsten Fall sind es Meinungen, die sich, wie es auch Sekten tun, vor jedem Zweifel und Weiterdenken verschließen. Sie werden dann nur ausgesprochen, um uns zu überreden oder um Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Um die gesunde von der ungesunden Meinung zu unterscheiden, müssen wir aber vor allem unseren Blick schulen. Denn was wir sehen, darüber denken wir nach, und worüber wir nachdenken, darüber bilden wir Meinungen. Im Buch der fünf Ringe, einem Hauptwerk in der asiatischen Kampfkunst, beschreibt der Samurai Musashi, dass wir zwei völlig verschiedene Augen besitzen. Das eine ist das beobachtende Auge. Es sieht die Welt unaufgeregt und klar, ohne Verzerrung oder Übertreibung. Das beobachtende Auge erkennt die Dinge, so wie sie sind. Das wahrnehmende Auge sieht dagegen mehr, als wirklich vorhanden ist. Stets übertreibt es, stets ist es von Gedanken und Gefühlen abgelenkt und fantasiert etwas hinzu.

Je unruhiger die Zeit, desto eher neigen auch wir dazu, das wahrnehmende Auge zu benutzen, statt nur zu beobachten. Kein Wunder. Ständig werden wir aufgefordert, jemanden zu bewerten, ganz gleich ob durch Likes oder sämtliche Umfragen. Eigentlich ist es ja richtig, sich jede Sache aus drei Perspektiven anzusehen, ehe man sich sein Urteil bildet. Wie sehe ich es? Wie siehst es du? Wie sieht es ein Unbeteiligter? – Leicht gesagt, schwer befolgt.

Im Alltag hindern uns oft die eigenen Ziele und die knappe Zeit daran. Online laufen wir Gefahr, dem Confirmation Bias zu unterliegen. So wird jeder unserer Klicks abgespeichert und verwertet. Algorithmen erkennen unsere Muster und Meinungen. Sie bestimmen, was uns auf den Social-Media-Kanälen angezeigt wird. Dabei füttern sie uns mit dem, was uns am besten schmeckt: nämlich mit Infos, die unsere Sicht der Dinge wieder und wieder bestätigen. So werden unsere Meinungen mit jedem Klick dicker und unbeweglicher, bis uns niemand mehr vom Gegenteil überzeugen kann.

Beobachten wir daher objektiv und offen. Bleiben wir für Standpunkte zugänglich, die unseren eigenen fern erscheinen. Konfrontieren wir uns aktiv mit Artikeln und Videos, die wir ansonsten sofort wegklicken würden. Vergessen wir niemals, dass es allzu oft unsere eigene Meinung ist, die uns den Weg versperrt.

 

Der heutige Buchtipp beschäftigt sich mit den Abgründen der öffentlichen Meinungsmache:

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum

 

Mehr Gedanken zur Coronakrise findest Du hier:

Coroniken IV – Stoisch durch die Krise

Coroniken III – Gegenwart(en)

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Stoisch durch die Krise

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Krankheiten, Kriege, Katastrophen. Meist überfallen sie uns plötzlich und ohne Rücksicht. Die Philosophie der Stoiker bietet aber erste Hilfe für die Seele. So auch mit drei bewährten Ratschlägen, um in unruhigen Zeiten gelassen zu bleiben.

 

1. Akzeptiere, was geschieht

Solang es bei uns läuft, werden wir mit allem fertig. Wir lächeln breit und reden lässig. Selbst wenn andere ein Unglück trifft, bewahren wir Ruhe. „Alles nicht so schlimm. Auch das geht vorbei“, sagen wir sanft und sicher. Wie anders liegt die Sache aber, sobald es uns an den Kragen geht? Plötzlich ist alles nicht nur schlimm, sondern noch viel schlimmer. Wagt es einer, uns zu damit zu trösten, dass „auch das vorbei geht“, dann wollen wir nichts davon hören. Schließlich fühlt es sich für uns an, als wären wir im Schraubstock eingespannt. Es tut unglaublich weh. Klar zu denken scheint unmöglich. Ob wir uns jemals befreien können, ist ungewiss.  

Nicht umsonst heißt es, dass man einen Menschen erst kennenlernt, wenn man ihn in die Enge treibt. Denn im Angesicht von Schmerz und Nachteil verwandeln wir uns ohne Übung rasch zu Sklaven unserer Emotionen. Unsere Gesichter verziehen sich zu Fratzen, Wut und Ärger schäumen, so mancher Gentleman mutiert in Sekundenschnelle zur Bestie. Wie fest kneifen wir die Augen zusammen, um die Wahrheit gerade noch rechtzeitig zu übersehen. Statt zu beobachten, urteilen wir. Statt uns vorzubereiten, verharmlosen wir. Statt uns selbst zu hinterfragen, belächeln oder beschimpfen wir, was unsere Meinung nicht bestätigt. Das Credo lautet allzu oft: Rebellieren, ignorieren und fantasieren, um ja nicht zu akzeptieren.

Stellen wir uns jetzt aber zwei Typen vor, die es ähnlich achtlos halten mit den äußeren Umständen: Einen Boxer, der auf seinen Gegner losgeht, als wären dessen Arme gefesselt. Und einen Schachspieler, der so spielt, als wäre immer nur er selbst am Zug. Wir benötigen nicht viel Vorstellungskraft, um uns in beiden Fällen das Ergebnis auszumalen. Der erste wird ohne Deckung kämpfen und fürchterlich verdroschen werden. Der zweite wird schlechte Züge wählen und in Bedrängnis geraten. Rasch heißt es für die beiden K.O. und Schachmatt.

Denken wir nun aber zum Vergleich an einen Boxchampion und an einen Schachgroßmeister. Warum feiern sie im Ring bzw. am Brett einen Triumph nach dem anderen? Zuallererst deshalb, weil sie vollkommen anerkennen, was vor sich geht. Der beste Boxer kann den feindlichen Schlägen nur so geschickt ausweichen, weil er akzeptiert, dass auch sein Gegner vorhat, ihn zu treffen. Der erfolgreiche Schachspieler ist nur so schwer zu besiegen, weil er zu jeder Phase miteinberechnet, dass auch sein Widersacher die stärksten Züge finden könnte.

Halten auch wir es wie die letzteren. Vergessen wir dabei aber nicht, dass es für Objektivität eine ruhige Seele braucht, die nicht vom Kampf gegen die eigenen Affekte geblendet ist. Wut, Ärger, aber auch Euphorie trüben unsere Sinne und verleiten uns zu schrecklichen Fehlschlüssen. Dagegen reichen oft ein paar Momente der Stille, um das Gesamtbild wieder zu erkennen.

Schließlich bedeutet Akzeptanz häufig, sich von Vorurteilen und tiefen Überzeugungen zu verabschieden. Darum schreibt auch Mark Aurel in den Selbstbetrachtungen: »Wenn du wegen eines Ereignisses verzweifelt bist, ist es nicht die Sache selbst, die dir Sorgen bereitet, sondern nur, wie du sie beurteilst. Diese Beurteilung kannst du von jetzt auf gleich löschen.«

 

2. Frage dich, was du kontrollieren kannst

Staudämme in der Natur. Asylanträge für Ausländer. Deadlines für Projekte. Goldene Regeln im Unternehmen. Sparbücher für die Zukunft. Eheverträge zur Sicherheit … Die Liste ist unendlich – unendlich wie die Sehnsucht des Menschen nach Kontrolle.

So findet sich beinahe in jeder Gruppe auch diese eine Person, die die gesamte Situation kontrollieren will. Hektisch läuft sie hin und her, ist nur mit dem Außen beschäftigt, fällt anderen ins Wort, diktiert Stichworte, manipuliert, verschweigt, bestraft, schreit oder schwindelt, und am Ende schaut sie wiederum so angespannt und misstrauisch wie zu Beginn, weil es ihr nie so ganz zu gelingen scheint.

Kontrolle ist nur ein Wunsch. Nach den Lehren der Stoa hängt unser Lebensglück aber stark von unseren Wünschen ab. Erfüllen wir sie, sind wir glücklich, unglücklich bleiben wir aber, solange sie nicht wahr werden. Selbst das Wünschen ist eine Kunst, die gelernt sein will. Kaum einer bringt sie uns in dieser wunschschwangeren Gesellschaft bei. Denn während wir nach Reichtum, einem tollen Job, nach Gesundheit, hemmungslosem Sex und schönem Wetter verlangen, vergessen wir leicht, wie eingeschränkt, ja, wie winzig der Bereich ist, über den wir selbst bestimmen.

Unser Haus kann jeden Tag abbrennen. Der Reichtum kann uns jederzeit verloren gehen. Auch über unseren Körper haben wir nur begrenzte Macht. Selbst wenn wir pausenlos trainieren und komplett auf ungesunde Nahrung verzichten – wir sind dennoch nie gefeit vor Unfällen, Krebs, Corona und all den weiteren tausenden Krankheiten. Schon gar nicht entscheiden wir selbst darüber, wie andere Menschen uns wahrnehmen. Von manchen werden wir heiß geliebt, obwohl sie uns nichts bedeuten. Für andere wiederum tun wir alles und noch viel mehr, obwohl wir von ihnen jahrelang ausgelacht, ausgebeutet oder betrogen werden.

Letztlich gilt deshalb: um all das zu haben, was wir wollen, dürfen wir nur das wollen, was wir haben. Für die Stoiker bedeutet dieses bescheidene Glück, dass wir es aufgeben, all jenes kontrollieren zu wollen, worüber wir keine Kontrolle besitzen. Dass wir darauf verzichten, nach äußeren Gütern zu verlangen. Sie stehen nicht in unserer Macht, folglich werden wir keinen Tropfen unserer Emotion für sie vergeuden.

Stattdessen raten uns die Stoiker, dass wir uns einzig auf jene wenigen Dinge konzentrieren, die unserem Einfluss unterliegen. Das sind lediglich unsere Urteile und Handlungen, letztlich unser Verhalten. »Vertraue nicht auf deinen Ruf, auf dein Geld oder deine Stellung«, heißt es dazu bei Epiktet, »sondern in deine innere Stärke: deine Einschätzung dessen, was unter deiner Kontrolle steht und was nicht.«

 

3. Amor Fati

Diese Formel, die durch Nietzsche Berühmtheit erlangte, verstehe ich als Königsdisziplin der stoischen Lebenskunst. Meist wird sie als bloße »Liebe zum Schicksal« oder als »Liebe dein Schicksal!« interpretiert, was ihr aber lange nicht gerecht wird. Denn Nietzsche spricht in Bezug auf sein Schlagwort nicht so sehr vom Schicksal, als vielmehr von der Notwendigkeit der Übel.

So notiert er auch 1888: »Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann {…} meine Formel dafür ist amor fati… — Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth {…}«

Lange davor, nämlich im alten Rom, fasste Seneca bereits einen artverwandten Gedanken: »In keiner Lebenslage wird es dir an Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen fehlen, wenn du es über dich gewinnst, das Schlimme lieber für erträglich zu halten, als es dir verhasst zu machen.«

Bloß zu akzeptieren reicht also noch nicht. Wir sollen alles, was uns widerfährt, als unerlässlich begreifen. Alles, was uns an Schlechtem zustößt, als unseren ureigenen Weg, als unsere Brücke zu einem schöneren Stück Land auffassen. Nicht mehr länger über unsere Niederlagen klagen, nein, wir sollen gerade die Krisen und Rückschläge in unserem Leben bedingungslos lieben.

Freilich ist das ein Ideal, das uns nur schwer erreichbar erscheint, dennoch gibt es kaum einen Ausspruch, der nur so vor Mut und Lebensbejahung strotzt. In diesem Sinne: Amor Fati!

 

Meine stoische Buchempfehlung:

Seneca – Von der Gelassenheit

 

Weitere Artikel zum Umgang mit der Krise: 

Coroniken II – Bildernährung

Coroniken III – Gegenwart(en)

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Gegenwart(en)

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Oft wollen wir etwas, was wir noch nicht haben. Wann wir es bekommen, wissen wir nicht. Also beginnen wir zu warten. Dabei opfern wir das kostbarste, worüber wir verfügen: die Gegenwart. Doch die Gegenwart ist das beste gegen-warten.

Nimm an, dein Bus kommt nicht. Schon in 15 Minuten beginnt in der Arbeit aber deine Präsentation, auf die du dich wochenlang vorbereitet hast. Alle Kollegen werden anwesend sein. Gestern ist dir sogar noch eine Idee eingeschossen, die dem Unternehmen langfristig helfen könnte. Doch ausgerechnet heute Verspätung! Bloß Autos und Lastwagen rollen um die Kurve. Dein Puls steigt, die Haut juckt, der Hund neben dir bellt immer lauter. Plötzlich fällt dir ein, dass du wegen der Präsentation auf den Geburtstag deiner besten Freundin vergessen hast. Was bist du nur für ein Mensch! Warum hast du dir keine Erinnerung eingestellt? Wie lange wird sie von dir enttäuscht sein? Sollst du ihr texten, oder sollst du lieber nochmal deine Präsentation durchgehen? … Und wann kommt endlich dieser verdammte Bus?

Jeder kennt es aus dem eigenen Leben: warten heißt leiden. Egal ob wir die Prüfungsnote, den Arztbefund oder die WhatsApp-Antwort von unserem Schwarm erwarten, wir sind währenddessen wie gelähmt. Während wir warten, verwirren sich unsere Gedanken. Dauernd erinnert uns das Gehirn daran, dass es noch immer nicht passiert ist. Vielmehr verlieren wir beim Warten unsere Präsenz. Die Gedanken driften ab, entweder in die Vergangenheit, zum Beispiel wenn wir bereuen, oder aber in die Zukunft, wenn wir hoffen oder etwas befürchten.

„Wenn ich es nicht bald bekomme“, denken wir, „dann kann ich höchstens noch das versuchen. Wenn das aber auch nichts hilft, dann ist alles vorbei. Dann krieg ich diese Chance nie wieder. Wahrscheinlich erfahren es auch noch die anderen, und dann, oh Gott, dann würden ja alle wissen, dass ich …“ – Und plötzlich pfeifen die Türen. Der Bus, auf den man eigentlich gewartet hat, ist abgefahren.

Eines muss uns klar sein: Beim Warten opfern wir stets die Gegenwart. Dieser Moment, das Hier und Jetzt, ist aber die einzige Wirklichkeit in unserem Leben. Vergangenheit und Zukunft sind Illusionen. Unsere Erinnerungen verändern sich mit uns. Was in vier Wochen sein wird, kann keiner mit Gewissheit vorhersagen. Niemand war jemals in einer der beiden Sphären. Kein Sieg, kein Kuss, kein unvergessliches Erlebnis hat gestern oder morgen stattgefunden. Es ist immer heute. Es bleibt immer jetzt. 

Statt aber zu beachten, wie schön die Knospen jetzt sprießen, starren wir durch die Zweige hindurch und fürchten etwas zu verlieren, was wir noch gar nicht haben. Statt den Text, den wir jetzt lesen, zu verstehen, stellen wir uns vor, jemanden zu überzeugen, der uns noch gar nicht kennt. Statt die Augen jetzt offen zu halten, rennen wir gegen Masten und andere Menschen, weil wir von etwas träumen, was wir gar nicht brauchen. Aufgrund der Warterei werden wir allzu oft blind für die Möglichkeit, die uns das Leben direkt vor die Nase setzt.

Schwer, schwer ist es, in der Gegenwart zu bleiben. Nichts fühlt sich aber schöner an, als gegenwärtig zu sein. Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen sich jeder Gedanke verflüchtigt. Alles wird leicht und frei. Und wir, wir werden ganz ruhig und so klar im Kopf, weil es nichts mehr gibt, was uns von diesem Augenblick ablenkt. Dagegen ist kaum etwas hässlicher als ein Mensch, der uns überhört oder übersieht, weil er sich völlig aus der Realität des Moments ausgeklinkt hat. Wir müssen ihn kneifen oder laut mit ihm sprechen, manchmal sogar weggehen, damit er uns bemerkt. Und wie oft waren wir selber dieser Mensch.

Gerade in unserer derzeitigen Lage macht uns das Warten leicht wahnsinnig. Wir fragen uns täglich, wann die Fallzahlen sinken, wann die Maßnahmen enden oder wann wir wieder in eine andere Stadt fliegen können. Wenn wir Filme sehen, ertappen wir uns bei dem Gedanken, dass sich die Menschen damals noch draußen treffen durften. Doch jedes Mal, wenn wir fürchten, dass wir aufgrund der Krise unser Geld und den Job verlieren könnten, verlieren wir in Wahrheit diesen Moment. Hängen wir verpassten Chancen nach, verlieren wir in Wahrheit die Chance auf das Jetzt. Bangend, hoffend oder wartend –  wir berauben uns selbst dabei um einen großen Teil unseres Lebens.

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Alle Probleme liegen hinter oder vor uns, die Gegenwart selbst hat keine Zeit für Probleme. Zum Glück ist dieser Moment viel zu kurz und flüchtig, um darin Hypothesen zu spinnen und Sorgen anzureichern. Und wenn wir nur in ihm bleiben, dann geschieht etwas Wunderbares: Wir werden mit allem fertig.

Wie aber bleiben wir im Moment? Antwort: indem wir etwas tun. Malen, singen, schreiben, Musik und Sport, kochen, spielen, tanzen, lesen, lernen, basteln, Yoga, meditieren, die Hauptsache ist, dass wir uns darauf konzentrieren und es mit Achtsamkeit tun. Wenn wir aber abdriften, macht das nichts. Es braucht nicht mehr als ein paar bewusste Atemzüge, schon sind wir zurück im Jetzt.

In unserem Leben gab es wohl niemals eine vergleichbare Gelegenheit, um uns genau darin zu üben. Es liegt an uns: wir können nun wochenlang auf bessere Zeiten warten. Oder wir können sofort die beste Zeit haben, indem wir aufhören zu warten.

 

Mehr zum Thema findest Du übrigens in diesem Buch von Eckhart Tolle:

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

 

Weitere Gedanken zur Überbrückung der Quarantäne gibt’s in diesen Artikeln der letzten Tage:

Coroniken I 

Coroniken II – Bildernährung

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

 

28. März 2020

Bildernährung

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22. März 2020

Auch ohne Corona werden wir von Infos umzingelt. News, Videos und soziale Medien bestimmen nicht nur über unseren Tag. Sondern auch über unsere Emotionen. Hier ein paar Gedanken zur digitalen Ernährung für die Quarantäne.

Viele von uns ernähren sich bewusst und gesund. Selbst jetzt zögern sie vor den Regalen und drehen die Joghurts im Kreis, um keinen Inhaltsstoff zu übersehen. Wir kaufen Apps, die uns sagen, wie viele Kalorien jedes Lebensmittel enthält. Wir lassen teure Ernährungspläne berechnen, um spätestens im Sommer topfit auszusehen. Und wie oft verzichten wir auf Pizza, Cola oder Gummizeug, auch wenn das alles zum Sterben gut schmeckt. Kurz gesagt wägen wir genau ab, was uns in den Mund kommt. Gleichzeitig achten wir aber kaum darauf, was wir in unsere Augen lassen.

Die Welt hält uns täglich davon ab, unseren Blick nach innen zu richten. Permanent konfrontiert sie uns mit Bildern, die wir nicht kennen, mit Personen, die uns nicht kennen, und mit Themen, mit denen wir uns noch nicht auskennen. Die Welt weiß genau, wie sie unsere Neugierde anlockt und unsere Augen gefangen nimmt: viel zeigen, aber nie alles, und immer werden wir mit der Hoffnung oder mit der Angst bei der Stange gehalten, bald noch mehr sehen zu können. Aber nicht jetzt. Sondern morgen. Da folgt erst die nächste Episode. Wir schalten ein, klicken drauf, schauen zu, warten, warten, schalten ein, klicken drauf, schauen zu, warten, warten: auf Instagram, Netflix, YouTube, im Fernsehen, unsere Warteschleifen enden nicht.

Wie zimperlich sind wir doch beim Essen! Manche mögen nichts Süßes, ekeln sich vor Fisch oder schleimigen Speisen, andere würgen schon beim Anblick einer Rosine. Ganz anders bei der Bildernährung. Egal ob der Vater die Mutter erdolcht, der Bruder die Schwester schwängert, die Influencerin ihren eigenen Selbstmord anteasert oder der Fernsehsprecher uns täglich Hiobsbotschaften von der Börse vorsetzt, wir schalten ein, klicken drauf, lesen durch, warten, warten – hier sind wir nicht wählerisch, hier verschlingen wir die ganze Speisekarte. 

Denn wer beobachtet sich schon selbst beim Beobachten? Zu spannend ist einfach die Handlung, zu arg die Gerüchte! Wer kündigt schon sein Netflix-Abo, weil er nicht täglich bei Schwerverbrechen und Ehebruch zusehen will? Wer verzichtet auf Instagram, weil er sich den Neid und die Minderwertigkeit eingesteht, die er beim Anblick mancher Stories fühlt? Zu interessant sind diese Leute, zu bunt diese gefilterte Welt hinter dem Bildschirm! Und was werden sie erst als nächstes posten? Schließlich muss man ja auch in der Mittagspause mitreden können. Ansonsten gehen einem die Gesprächsthemen aus, und dann wird man aus der Gruppe ausgeschlossen und am Ende womöglich noch gemobbt…

Dabei sind Bild- und Tonernährung ebenso wichtig wie die Auswahl unserer Speisen und Getränke. Genauso wie Coronoviren können giftige Informationen über unsere Augen und Ohren in unsere Körper eindringen, wo sie uns traurig und wütend machen, uns mit Ärger, Hektik und Eifersucht durchbluten, uns zu falschen Handlungen und Fehleinschätzungen treiben. Die Angst, die Freude, der Ekel, Lust und Frust, die wir beim Schauen und Hören empfinden, sie alle wirken sich nachhaltig auf unsere Stimmung aus, und unsere Stimmung bestimmt oder verstimmt unsere Beziehungen, und letztlich sind es unsere Beziehungen, die darüber entscheiden, ob unser Leben gelingen kann.

Dieses Leben wird sich in den kommenden Wochen fast ausschließlich daheim abspielen. Häufig in engen Räumen. Dicht gedrängt, mit drei, vier, fünf Personen. Um uns da nicht fürchterlich zu langweilen und hässlich zu streiten, müssen wir uns mehr denn je ablenken. Umso wichtiger, dass wir bewusst darauf achten, was wir konsumieren und was jedes Medium mit uns macht. Löst diese Serie vielleicht Trauer in mir aus? Ist mir diese Musik vielleicht zu aggressiv? Werde ich panisch, wenn ich mir noch einen Coronabericht ansehe? 

Ansonsten können wir unsere Wut im Fitnesscenter gut abreagieren, oder wir lenken uns vor Spannungen mit einer Person ab, indem wir ihr ein paar Tage aus dem Weg gehen. Jetzt aber können wir viel für unsere Gemeinschaft tun, indem wir unsere Liebsten motivieren und vorbildhaft für mehr Harmonie und gute Stimmung sorgen.

Lasst uns nichts anklicken, was uns aufstachelt. Steuern wir unsere Emotionen in eine helle Richtung. Ernähren wir uns bewusst von positiven Bildern, Tönen und Worten. Hier deshalb noch drei Lesetipps für mehr Lebensfreude und innere Zufriedenheit, nicht nur in den kommenden Wochen:

 

Eckhart Tolle – Eine neue Erde 

Deepak Chopra – Feuer im Herzen

Ryan Holiday – Der tägliche Stoiker

 

Herzlichst,

Patrick Worsch

Coroniken I

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 19.3.2020

Alles ändert sich ständig. Schon vor 2400 Jahren wusste Platon, dass jeder Zustand aus seinem Gegenteil entsteht. Das Ferne braucht das Nahe, das Große folgt aus dem Kleinen und das Junge aus dem Alten. Nach keinem anderen Gesetz verläuft diese neue Phase in unserem Leben.

Aus dem Trubel ist Stille geworden, aus dem Rausgehen der Rückzug. Dieses Gesetz vom Gegenteil wird sich aber besonders bewahrheiten, sobald die Beschränkungen nicht mehr gelten. Wie frei und unbegrenzt werden wir uns dann wieder fühlen, gerade weil wir uns jetzt so einengen müssen? Wie sehr werden wir es genießen, nicht auf unser Smartphone zu schauen, sondern in das wunderschöne Gesicht unseres Gesprächspartners? Wie groß wird die Vorfreude auf ein Treffen mit Freunden im Café? Wie ausgelassen werden wir feiern, wie leidenschaftlich werden wir lieben!

Binnen kürzester Zeit wird sich der Stillstand in eine Goldgräberstimmung verwandeln, die jeden noch so gelähmten Lebensbereich wieder aufwecken und mit Elan und neuem Mut befruchten wird. Erinnern wir uns gerade deshalb in den langweiligsten und dunkelsten Momenten daran: je tiefer diese Krise, desto höher gerät auch der Aufstieg danach.

In diesen Tagen verwandelt sich auch unser Verhalten in sein Gegenteil. Ansonsten stets in Eile, sitzen wir auf einmal daheim auf unseren Stühlen und Medizinbällen. Wir gähnen und strecken uns. Draußen hören wir den Wind wehen. Wenn alle um 18 Uhr klatschen und singen, ist das ein Highlight für uns.

Was ist bloß seit letzter Woche aus uns geworden? Noch bis vor wenigen Tagen bestand unser Alltag darin, täglich im Außen etwas zu wollen und selbst Erschöpfung und sämtliche Nerven zu riskieren, um es irgendwie zu kriegen. „Schnellstmöglich, zeitnah, prompt, bitte bei nächster Gelegenheit“, hieß es in unseren Emails. Auf den Straßen hetzten Menschen an uns vorbei, deren Gesichter wie Fratzen angespannt waren. Jedes Augenpaar schien krampfhaft nach etwas zu suchen. Kaum wagte man, länger als zwei Minuten mit jemandem zu sprechen, ohne sich schon unhöflich vorzukommen. Schließlich mussten wir ja beide ganz dringend irgendwo anders hin.

Nun aber? Emails haben Zeit. Auf der Straße halten wir Abstand. Die Menschen gehen langsamer, bedächtiger. Niemand rempelt uns, keine Ellenbogen fahren aus. Fremde winken und nicken einander zu. Plötzlich telefonieren wir mit Freunden. Ungezwungene, intensive Dialoge entwickeln sich wie von selbst, und keiner muss auflegen. Der Virus hat die Menschen nicht nur ängstlich, sondern auch freundlicher gemacht.

Vielmehr erhalten wir nun die Chance, uns besser kennenzulernen.  Es liegt an uns, ob wir diese Phase überhaupt bewerten oder beurteilen wollen. Wenn ja, dann haben wir aber die Wahl: entweder verstehen wir das Geschehen als große Depression oder aber als erholsame Pause, entweder fürchten wir, dass wir nachher nichts mehr haben, oder aber wir achten genau jetzt die Personen und Dinge, die unser Leben so liebenswert und schön machen.

Natürlich ist es eine Zeit der Unsicherheit, in der viele von uns einen Bericht nach dem anderen verschlingen und plötzlich jedes Detail über Cluster, Triagen, Virenstämme und Rezeptoren in der Lunge kennen. Hundertmal pro Tag werden wir vor etwas gewarnt; ähnlich oft fragen wir uns, ob wir die Krankheit ebenfalls bekommen, ob wir sie überleben werden, ob unsere Liebsten sie schon haben, ob unsere Eltern und Großeltern sicher sind, ob wir die Kaffeetasse noch am Henkel anfassen dürfen, ob die Wirtschaft kollabiert und ob der morgige Tag genauso zäh vergehen wird wie heute?

All diese Ängste und Sorgen werden uns in Wahrheit aber nicht aufgezwungen. Niemand anders, nur wir selbst erzeugen sie. Und wenn Viktor Frankl  es schaffte, seinem Leben sogar inmitten des Konzentrationslagers einen Sinn zu geben, dann werden wohl auch wir die Tristesse dieses Frühjahrs überstehen. Wenn Robinson Crusoe 28 Jahre auf einer abgelegenen Insel überlebt, dann werden wohl auch wir unser eigenes Zuhause für zwei oder drei Monate aushalten. Alles ist nur für den Moment, denn alles ändert sich ständig. Wir dürfen auch das Gegenteil von dem fühlen, was wir glauben, fühlen zu müssen.

Bleiben wir also gerade jetzt besonnen und bei uns. Beobachten wir gerade jetzt unser Inneres ganz genau. Wählen wir unsere Emotionen selbst.

Herzlichst,

Patrick Worsch

 

 

Interview: Baby Express

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Lesung: Fotomord

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